Autor Thema: ReWalk - Raus aus dem Rollstuhl  (Gelesen 9697 mal)

Offline Thomas Beßen

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ReWalk - Raus aus dem Rollstuhl
« am: 01. Oktober 2008, 06:25:36 »
"Radi Kaiof aus Tel Aviv geht Schritt für Schritt einem neuen Leben entgegen. Eine israelische Erfindung verhilft Querschnittsgelähmten wie ihm wieder zum aufrechten Gang. Spätestens in zwei Jahren soll der ReWalk in Serie gehen.

Das schönste Kompliment hat ihm kürzlich seine vierjährige Tochter Schirin gemacht. "Papa", hat sie verwundert ausgerufen, als sie ihn zum ersten Mal mit der Apparatur sah, die Lahme zum Laufen bringt, "Papa, du bist wirklich sehr groß." Eigentlich ist Radi Kaiof, 41, von durchschnittlicher Körpergröße, knappe 1,70 Meter. Aber die Tochter kannte ihn bis dahin nur im Rollstuhl. Stolz hat sie am nächsten Tag im Kindergarten berichtet: "Mein Vater kann gehen."

Er kann noch einiges mehr, was für Querschnittsgelähmte bislang unmöglich war: Ohne fremde Hilfe aus dem Stuhl aufstehen, Treppenstufen nehmen, die Welt in Augenhöhe seiner Mitmenschen betrachten. Der Exo-Skeleton hilft ihm dabei, ein computerisiertes und batteriebetriebenes Gerät, das um Körper und Beine geschnallt wird.

Wenn er damit im High-Tech-Park von Haifa herumspaziert, denkt man auf den ersten Blick an einen Roboter. So gezirkelt fällt sein Gang aus, bei dem er den Oberkörper auf Krücken stützt. Auch schnarrt die Gelenkmechanik, wenn man genau hinhört. Pieptöne signalisieren zudem, welcher Bewegungsmodus gerade eingeschaltet ist. Ferngesteuert aber ist Radi Kaiof deshalb nicht. Bei jedem Schritt ist er Herr seiner selbst. Eine leichte Schulterbewegung nach hinten reicht, und er bleibt stehen.

Mit dem Exo-Skeleton, auch ReWalk genannt, hat er kürzlich einen ganzen Kilometer zurückgelegt. Sogar auf der Strandpromenade Tel Avivs war er unterwegs. "Ein unglaublicher Fortschritt für Leute in meiner Verfassung", sagt Radi Kaiof. Nicht in jeder Bordsteinkante ein Hindernis zu sehen, nicht ständig um Hilfe bitten zu müssen. Sich wieder unabhängig zu fühlen. "Das Ding", meint er und klopft auf die Metallschiene am Bein, "ändert den ganzen Lebensstil."

Ein bisschen ist es wie der wahr gewordene Traum aller Rollstuhlfahrer. Wieder gehen können! Radi sagt, er habe sich "nie vorgestellt, dazu noch mal in der Lage zu sein". Nach dem traumatischen Einschnitt, nach dem nichts mehr war wie zuvor.

Als es passierte, war er 21 Jahre alt. Noch 30 Tage Wehrdienst im Südlibanon lagen vor ihm. Dann sollte es für fünf Monate ab nach Indien gehen. Viele israelische Soldaten machen es nach der Armeezeit so. Auch Radi Kaiof, ein Fallschirmjäger, sehnte sich danach, an irgendeinem Strand den Militärstress abzuschütteln.

Doch es kam anders, an jenem 4. Mai 1988. Die libanesische Hisbollah hatte Wind von dem geplanten Angriff der Israelis auf ihr Versteck bekommen. Kaiofs Einheit landete in einem Hinterhalt. Es gab Tote und Verwundete. Kaiof traf ein Schuss in den Rücken, zwei Kugeln verletzten ihn am Bauch.

Es war ein böses Aufwachen. Nach 19 Tagen im künstlichen Koma, verbracht zwischen Leben und Tod, kam er auf der Intensivstation des Ramban Hospitals in Haifa zu Bewusstsein. Fast alle inneren Organe waren verletzt. Schlimmer noch empfand Radi Kaiof, dass er seine Beine nicht spürte. Ein Arzt erklärte ihm, sein Rückgrat habe etwas abbekommen. Kaiofs erster Impuls war, wenigstens am Fenster liegen zu dürfen. "Ich wollte mich einfach hinauswerfen."

In der Klinik kannten sie sich mit solchen Reaktionen auf die Diagnose, querschnittsgelähmt zu sein, aus. "Sie haben sich enorm um mich gekümmert. Allmählich kam ich zu Verstand." Aber es hat ein Jahr gedauert, bis er, ein israelischer Druse, sich mit seinem Schicksal abfand. So gut es ging, baute er sich ein normales Leben auf.

Studierte wie andere, machte seinen Bachelor in Humanwissenschaften und internationalen Beziehungen. Schaute derweil in Usfija, seinem Heimatdorf auf dem Karmel, nach einer passenden Braut und fand sie auch. 1994 heiratete er Hiam, mit der er vier Kinder hat, drei Töchter und einen kleinen Sohn. Nur die Hoffnung, je wieder laufen zu können, die hatte er vor 20 Jahren aufgegeben.

Bis Radi im Reha-Zentrum in Herzliya, wohin er zweimal die Woche zur Bewegungstherapie musste, Amit Goffer kennenlernte. Goffer, 55, seit einem Unfall vor elf Jahren selber querschnittsgelähmt, ist der eigentliche Held dieser Geschichte. Anders als Radi Kaiof, der Schultern und Arme frei bewegen kann, gilt Goffer als quadriplegisch. Was bedeutet, dass er an allen Gliedern, fast bis zum Hals, an Lähmungserscheinungen leidet. Nur noch die linke Hand gehorcht ihm. Das hat ihn nicht davon abhalten können, über Alternativen zum Rollstuhl nachzudenken. "Mir schwebte eine Art Anzug vor, der die Leute wieder beweglich macht."

Vor seinem Unfall hatte Goffer eine medizinisch-technische Firma geleitet. Er kannte den Markt, die Spezialkliniken, die Experten, Israels Götter in Weiß. Die wussten, was Goffer vorschlägt, hat meist Hand und Fuß. "Mich trieb die Idee an", erzählt Goffer im Garten des Reha-Zentrums von Herzliya, "Durchbrechendes zu erfinden." Nicht nur etwas, das den Alltag erleichtert wie ein Treppenrollstuhl oder ein hochstellbares Bett. "Ich wollte eine richtige Sache, die allen Hindernissen im urbanen Raum gewachsen ist."

Vor allem ging es ihm darum, querschnittsgelähmten Menschen ihre Würde zurück zu geben. "Wenn du im Rollstuhl sitzt", sagt er, "halten die Leute dich gleich für zurückgeblieben." Für nicht ganz auf der Höhe, so wie ein Kind. Oft sprächen sie gar nicht ihn selbst an, sondern lieber den, der den Rollstuhl schiebt.

Er muss sich räuspern. Das kommt häufig vor, wenn Goffer viel spricht. Wenn man nur sitzt oder liegt, verursachen alle möglichen Organe Beschwerden: Herz, Atemwege, der Verdauungsapparat. Mit dem Exo-Skeleton zu gehen, sorgt auch da für Abhilfe. Der aufrechte Gang bringt Kreislauf und Lebenssäfte in Schwung. Goffer selbst hat nichts davon. Sein Zustand erlaubt ihm nicht, seine Erfindung zu benutzen. Man braucht zwei gesunde Arme und Hände dazu. Aber die Entwicklung vom Reißbrett bis zur praktischen Ausgestaltung zu verfolgen, "das", sagt er, "war eine großartige Erfahrung". Seine Augen leuchten vor Begeisterung.

Im Januar 2004 gab es die Premiere. Erstmals tat ein gelähmter Mensch mit dem Prototyp einen Schritt. Es war ein kühnes Unterfangen mit einer klobigen Apparatur, die an ein Klappergestell erinnert. Ein Vorläufermodell hängt noch bei der Firma Argo in Haifa an einer Kleiderstange. Professor Gabriel Zeilig, 55, der derzeit in der Neurologischen Reha-Abteilung des Sheba Medical Center in Tel Aviv die klinische Testreihe mit dem Exo-Skeleton durchführt, findet sogar, dass das allererste Modell Assoziationen an Frankenstein weckte. Aber es funktionierte. So skeptisch die Fachwelt auf einem Mediziner-Kongress in Zürich, wo das Gerät im Dezember 2006 präsentiert wurde, zunächst auch reagierte.

Nicht jeder hat eben einen so in die Zukunft gerichteten Blick wie Amit Goffer. Radi Kaiof brauchte er nicht lange überreden. Aber auch der musste den Umgang mit der Gehmaschine erst lernen. Die fünf Patienten von Professor Zeilig, die an der gerade abgeschlossenen Versuchsreihe teilnahmen, brauchten zwischen 16 und 20 Trainingsstunden dafür. Ähnlich wie in der Fahrschule. Radi war schon beim ersten Versuch überzeugt.

Es war ein Tag im Mai 2007, und plötzlich stand er da in voller Lebensgröße und wagte den ersten Schritt. Seitdem ist er Testläufer bei Argo, dem Startup-Unternehmen, wo man noch an der Perfektionierung von Design und Technologie des ReWalk arbeitet. In einem Jahr, aber spätestens 2010, hofft man, in die Serienproduktion zu gehen.

Radi Kaiof grinst, während sein Neffe Munib ihm hilft, den ReWalk anzulegen. "Wenn ein neues Auto auf den Markt kommt, kriegt man eine schöne Frau zu sehen. Hier müsst ihr mit mir Vorlieb nehmen." Munib schnallt die Metallgelenke an Kaiofs Ober- und Unterschenkel. Sie sind miteinander verbunden und werden durch je einen eigenen Minimotor pneumatisch betrieben.

Die Füße kommen in ein Einlegebett, darüber werden normale schwarze Sneakers angezogen. Noch mal prüfen, ob alle Verschlüsse eingerastet sind, drei an jedem Bein, einer am Bauch und einer an der Brust. Munib hängt seinem Onkel den Rucksack mit dem Steuerungslaptop um, Kaiof selbst bindet sich die Steuertastatur ums Handgelenk. Los geht's. Wohin? "Na, ins Café", sagt Radi Kaiof, seine Vorführungen führen immer dorthin.

Es dauert drei Sekunden, bis der ReWalk ihn in die aufrechte Position hievt. Im Fahrstuhl beäugt sich Radi im Spiegel. Nicht etwa wegen des Geräts, nur ob die Haarspitze über der Stirn schön gezwirbelt ist. Die Rampe am Haupteingang ist für ihn kein Problem, ebenso wenig das Überqueren der Straße. Wozu gibt's Zebrastreifen? Die paar 100 Meter zum Ziel bewältigt er im Tempo eines gemächlichen Fußgängers.

Nur bei den drei Stufen rauf zum Café wirkt Neffe Munib leicht nervös. Die Computerexperten, die die Software für den ReWalk entwickelt haben, passten den Algorithmus für den Neigungswinkel beim Treppensteigen neu an. Jede Bewegung basiert auf einer ausgetüftelten mathematischen Formel. Doch alles stimmt. Der Barkeeper begrüßt Radi Kaiof per Handschlag, ein Privileg für Stammkunden.

Seitdem Radi Kaiof mit dem ReWalk fast täglich unterwegs ist, spart er sich die Bewegungstherapie in Herzliya. Sein Darmtrakt muss nicht mehr ständig medikamentös stimuliert werden. Die notorische Verstopfung, die vielen Querschnittsgelähmten zu schaffen macht, ist er los. Bei den fünf anderen Versuchspatienten im Sheba-Klinikum hat Professor Zeilig ähnlich positive Nebeneffekte festgestellt. Muskeln, Herz und Atmung bekommt der ReWalk ausgesprochen gut. Gehen ist gesund - auch für Gelähmte. Vor allem aber fühlten sich die Patienten sicher genug mit dem Gerät, das sie zum Laufen bringt. "Ein Sturz", lautet denn auch das oberste Gebot seiner Erfinder, "darf einfach nicht passieren."

Gabriel Zeilig denkt schon weiter. Er hat die vage Hoffnung, dass in Fällen akuter Rückenmarksverletzungen das Gehen mit dem Exo-Skeleton Nervenfunktionen womöglich wiederbelebt. So wie eine gelähmte Hand nach einem Schlaganfall wieder beweglich wird, wenn gesunde Hirnteile für die geschädigten einspringen. Im Rückenmark gibt es mehrere Schaltzentren für den automatischen Gang. Passive Bewegung, glaubt Zeilig, könnte sie aktivieren. "Aber Vorsicht", warnt er, "noch ist das nur eine Vision."

Der ReWalk ist real. Er steht kurz davor, die Welt der Querschnittgelähmten zu revolutionieren. Das ist zugleich ein Riesenmarkt. 2,8 Millionen Rollstuhlfahrer gibt es allein in Europa. Ein Drittel von ihnen, schätzten die Manager von Argo, könnte mit dem ReWalk wieder laufen. Kosten wird er voraussichtlich so viel wie ein Rollstuhl mit allen Finessen, geschätzte 15 000 Euro.

An Nachfrage herrscht schon jetzt kein Mangel. Aus Rumänien und Venezuela meldeten sich Freiwillige für die laufende Versuchsreihe. Goffers Computer wird derweil mit hunderten Emails täglich zugeschüttet. Alle wollen es Radi Kaiof nachtun - und vielleicht bald in allen Lebenslagen wieder aufrecht gehen.

Noch darf Radi Kaiof den ReWalk daheim nicht benutzen, eine Versicherungsfrage. "Aber wenn es soweit ist", sagt er, "muss ich aufpassen, dass meine Kinder nicht die Fernbedienung in die Finger kriegen.""

Quelle: www.fr-online.de

Guten Morgen!
Thomas Beßen
Wer heute krank ist, muss kerngesund sein.