Autor Thema: Schlafentzug  (Gelesen 3604 mal)

Mathi

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Schlafentzug
« am: 31. Mai 2011, 03:04:01 »
Schlafentzug

Schlafentzug ist eine ergänzende Therapiemaßnahme, die bei depressiven Erkrankungen Befindensverbesserungen anstößt.

Die meisten Menschen haben - auch wenn sie nicht von einer Depression betroffen waren - die psychische Wirkung von zu wenig Schlaf bereits einmal erlebt. Insbesondere die leichte "Aufgedrehtheit" und dezente Euphorie, die sich bei Gesunden nach einer durchwachten Nacht beobachten lässt, ist ein Hinweis darauf, dass Schlafentzug Auswirkungen auf den Antrieb und die Stimmung des Menschen haben kann. Warum und wie genau Schlafentzug wirkt ist eine ungeklärte Frage. Sie ist auch deshalb so schwierig zu beantworten, da es eine Vielzahl an Hypothesen gibt, welche Funktionen der Schlaf für Lebewesen erfüllt. Die gleiche hohe Komplexität gilt für die am Schlaf beteiligten Stoffwechselvorgänge und Hirnareale.

Was hingegen gut bekannt ist, ist die einfache Tatsache, dass die Mehrzahl der depressiv erkrankten Menschen über Störungen des Schlafrhythmus berichtet. Dies sind Einschlafstörungen, insbesondere bei schwereren depressiven Erkrankungen die Durchschlafstörungen. Die Betroffenen erwachen früh in der zweiten Nachthälfte, können nicht wieder einschlafen, liegen wach und erleben ein quälendes Grübeln.

Es gibt den völligen Schlafentzug (eine komplette Nacht), den partiellen Schlafentzug (in der zweiten Nachthälfte) sowie den selektiven Schlafentzug (bestimmte Tiefschlafphasen). Schlafentzug wird zumeist unter stationären, seltener unter ambulanten Bedingungen praktiziert. In Kliniken wird Schlafentzug zumeist in Gruppen durchgeführt, dadurch lässt sich die Zeit des nächtlichen Wachseins besser gestalten, als dies für einen Einzelnen möglich ist. Zu beachten ist, dass am Folgetag nach dem Schlafentzug kein Tagschlaf erfolgt (auch kein Minutenschlaf) und in der darauffolgenden Nacht nicht übermäßig geschlafen wird, da dies den positiven Einfluss auf die Depression wieder aufhebt.

Die Dauer der positiven Effekte von Schlafentzug ist begrenzt, ein Abklingen ist oft bereits nach einem Tag und spätestens nach einer Woche zu verzeichnen. Nur einige Patienten erleben eine darüber hinausgehende völlige Wende im Erkrankungsverlauf. Aus diesem Grunde wird empfohlen, Schlafentzugstherapie zu wiederholen (1-2 wache Nächte pro Woche). Die Durchführung von Schlafentzug kann jedoch auch nach einem Zeitplan mit täglicher allmählicher Verlagerung der Schlafenszeiten erfolgen, hierdurch scheinen sich Wirksamkeit und Stabilität des Therapieerfolges ebenfalls zu erhöhen.

Besonders auf Schlafentzug anzusprechen scheinen jene Depressionen, die als sogenannte endogene Depressionen bezeichnet werden. Dies sind Erkrankungstypen bei denen der Stoffwechsel des Gehirns einen überwiegenden Einfluss auf das Entstehen der Erkrankung hat. Schlafentzug wird zudem dann eingesetzt, wenn keine sogenannte Response auf antidepressive Behandlungsversuche einsetzt, das heißt, wenn trotz Medikamentenwechsel keine Besserung zu verzeichnen ist. Nicht zu empfehlen ist Schlafentzug bei einer bestehenden Epilepsie, da hierdurch Anfälle ausgelöst werden können. Abstand vom Schlafentzug nimmt man auch bei der Behandlung depressiver Symptome bei schizophren Erkrankten, da der Schlafentzug hier zu psychotischen Symptomen führen kann. Bei depressiven Phasen innerhalb bipolarer affektiver Störungen (Manisch-Depressive-Erkrankung) kann der Schlafentzug u. U. eine Manie auslösen.

Die Entscheidung ob Schlafentzugstherapie durchgeführt werden soll, ist mit dem Arzt zu beraten. Auf jeden Fall sollte der Betroffene den Sinn der Maßnahme verstehen und damit einverstanden sein. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil viele depressiv erkrankte Menschen das abendliche zu-Bett-gehen-können als Erleichterung nach einem quälenden Tag empfinden. Einem Betroffenen diese Entlastung zu nehmen, kann zu manchen Zeiten das Falsche sein. Den meisten Erkrankten fällt das Wachbleiben jedoch leichter als sie es zunächst vermuten. Insbesondere die sonst mit Grübeln erfüllte Zeit der frühen Morgenstunden bekommt durch die bewusste Entscheidung für das Wachbleiben und während der einhergehenden Beschäftigung einen anderen Charakter.

© Dipl.-Psych. Jens-Uwe Schmidt, Leipzig, 2002