Autor Thema: Gegen die Uhr  (Gelesen 3004 mal)

Offline Thomas Beßen

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Gegen die Uhr
« am: 27. Mai 2011, 06:31:11 »
"Fünf Minuten Besuch, fünf Formulare: Wie Berliner Altenpfleger durch ihren Arbeitstag hetzen müssen und sich trotzdem Zeit nehmen.

Am Ende dieses Tages glaubt man, wie bei einer Puppenstube in die Häuser schauen zu können und sieht überall alte, einsame Leute. Frauen, die ihre Wohnung schon lange nicht mehr verlassen. Männer, die sich nicht zu helfen wissen. Menschen, die aus dem Bild der Stadt verschwanden, als sie das wurden, wovor viele sich fürchten: ein Pflegefall. Es braucht einen besonderen Blick, deren Lebenswelten wahrzunehmen. Wer ein Kind erwartet, bemerkt überall schwangere Frauen. Wer mit der Altenpflege zu tun bekommt, stößt an jeder Ecke auf die ambulanten Dienste.

Für Marco Günther hat der Tag zehn nach vier zu Hause im Berliner Stadtbezirk Lichtenberg begonnen. Die Straßen sind noch leer, deshalb schafft er es, um fünf in Treptow zu sein, wo er für den Pflegedienst Schaumann & Born arbeitet. Günther, kurze Haare, Brille, Kapuzenshirt, ist der Erste im Büro. Mit raschen Bewegungen packt er die abgezählten Medikamente in die Medizintasche, füllt seinen Rucksack mit Verbandsmaterial, pflückt die 17 Wohnungsschlüssel, die er im Frühdienst benötigt, von den Haken und schafft es noch, nebenher eine Einführung in den Pflegealltag zu geben. Als Krankenpfleger ist er anders als der Hauspfleger nicht für Dinge wie die Körperhygiene zuständig, sondern für die medizinische Versorgung. Manchmal sei das eine allerdings nicht von dem anderen zu trennen. "Wenn einer in der Brühe liegt, hole ich in raus", sagt Günther. Mit seinen 38 Jahren zählt er schon zu den jüngeren Mitarbeitern im Pflegedienst, ein generelles Problem.

Da das nicht das einzige ist, hat Gesundheitsminister Philipp Rösler das Jahr 2011 zum Jahr der Pflege erklärt. Kurz gefasst soll die Ausbildung effizienter, die Betreuung individueller und das Berufsbild attraktiver werden, besonders für Männer. Schon jetzt fehlen 50000 Arbeitskräfte, und laut Statistik wird die Zahl der Pflegebedürftigen in den nächsten zehn Jahren weiter steigen, von derzeit 2,4 Millionen auf drei Millionen Menschen. Die Mehrheit von ihnen lehnt es ab, ins Heim zu ziehen. Die Alternative, eine Betreuung in den eigenen vier Wänden, wird viel gefordert, aber wenig gefördert.

Für Marco Günther besteht das Jahr der Pflege aus vielen einzelnen Minuten der Pflege, von denen jede genau abgerechnet wird. Seine Tour beginnt in Alt-Glienicke, nahe dem Flughafen Schönefeld. Zehn vor sechs parkt er vor dem Haus von Joachim Lydekat. Im Erdgeschoss brennt Licht. "Ah, er ist schon wach", sagt Günther und deshalb klingelt er, bevor er die Wohnungstür aufschließt. Herr Lydekat kommt ihm schlurfend entgegen. "Hast du gut geschlafen?", fragt der Pfleger. "Nee, schlecht", antwortet sein Patient, den er eigentlich Klient nennen soll, weil sich das Pflegeunternehmen als moderner Dienstleister versteht. Er soll seine Klienten eigentlich auch siezen. Aber wer sagt schon Sie zu Leuten, die er aus der Scheiße zieht, wenn es sein muss.

Herr Lydekat, 75, ein schmaler, weißhaariger Mann, hat sein Leben lang im Reifenwerk gearbeitet. Er war Segler, in jeder freien Minute auf dem Wasser. Nie geraucht. Seit er vor drei Jahren einen Schlaganfall erlitten hat, ist er auf Hilfe angewiesen. Er trägt einen Blasenkatheter, zweimal am Tag muss der Urinbeutel gewechselt werden. Herr Lydekat setzt sich auf den Rand der Wanne und zieht die Schlafanzughose herunter. Marco Günther streift sich Gummihandschuhe über, klemmt den Zulaufschlauch ab, mit ein paar Handgriffen ist die Sache erledigt. Anschließend bereitet er in der Küche eine Insulinspritze gegen Diabetes vor, die er seinem Patienten in die Bauchdecke verabreicht. Dann noch die Augentropfen, und Tabletten, Zucker, Herz, Cholesterin. Im Radio beginnen die Sechs-Uhr-Nachrichten. "Was'n für Wetter draußen?", fragt Herr Lydekat. "Kalt", antwortet Günther. Er konzentriert sich jetzt auf die Dokumentation. Nach jedem Besuch muss er nicht nur über seine Handreichungen Buch führen, sondern auch seinen Eindruck vom Klienten schildern. "Wie er so drauf ist." Das alles kostet Zeit, die Marco Günther lieber für die Patienten hätte. Für die Visite bei Joachim Lydekat sieht die Planung exakt zwanzig Minuten vor. Dann geht es weiter.

Nimmt der Pfleger seine Arbeit ernst, ist sein Einsatz ein täglicher Kampf für den Menschen und gegen die Uhr.

Um 6.30 Uhr ist Frau Ebert dran, Kompressionsstrümpfe, Medikamente, sieben Minuten. 6.50 Uhr, Frau Czinkewitz, Verband, Medikamente, Strümpfe, 17 Minuten. 7.20 Uhr steigt Marco Günther die drei Treppen zu Frau Anbach hoch. Er kommt heute zum letzten Mal zu der 91-Jährigen. Die Druckstelle an ihrem Bein ist besser geworden. "Haben wir gut weggepflegt", sagt er. "Sie machen das auch richtig toll", sagt sie. Er braucht dann noch eine Unterschrift, da diese Dienstleistung jetzt abgearbeitet ist. "Und dann kommen Sie nicht mehr?", fragt Frau Anbach. "Die Beine sind in Ordnung, seien Sie doch froh." Aber so richtig froh, kann Frau Anbach darüber nicht sein. Zu sehr hatte sie sich an den täglichen Besucher gewöhnt. Selbst wenn er nur sieben Minuten bleiben darf. "Ich würde schon gern mehr mit den Leuten quatschen", sagt Marco Günther. Quatschen ist Bestandteil des Leistungskomplexes 33, psycho-soziale Betreuung. Dafür ist er nicht zuständig.

Marco Günther hat sich an das Tempo gewöhnt. Er scheint es sogar ein bisschen zu genießen. Er ist kein Typ, der lange still sitzen kann, weshalb er im Urlaub am liebsten mit dem Rucksack unterwegs ist. Vietnam, Kambodscha, Thailand, hat er alles schon gesehen. Letztes Jahr war er in Birma. Um sein Gehalt als Krankenpfleger aufzubessern, viel mehr als 1500 Euro netto sind kaum drin, übernimmt er Nacht- und Spätdienste. Dafür gibt es Zuschläge. "Ich habe ein Auto, eine kleine Wohnung und einen Garten, das passt schon", sagt Marco Günther. Eine feste Freundin hat er nicht, bei den Schichten sei das etwas schwierig.

Wie so viele in der Pflege ist er auf Umwegen in den Beruf gekommen. Als Maschinen- und Anlagenbauer wurde der Ostberliner nach der Wende seine Arbeit bald los. Er war damals erst 18 und ist im Zivildienst in die Altenpflege reingerutscht. Später hat er neben seinen täglichen Diensten noch den Fachabschluss nachgeholt.

Inzwischen geht es auf Mittag zu. Frau Schlünz hat ihre Pillen bekommen, Frau Egger war nicht gut zu sprechen, Herr Wittig ist wohlauf. Sein letzter Termin führt Marco Günther zu Herrn Blazek. Jörg Blazek leidet an einer Psychose. Als er dachte, er könnte fliegen, ist er aus dem Fenster gesprungen. Seitdem fehlen ihm der rechte Arm und das linke Bein. Herr Blazek ist ein Fall für sich, einer jener Klienten, bei dem die Pfleger ihr Zeitkontingent zuverlässig überschreiten. Mal denkt er, er sei Captain Kirk, mal ist er Jörg Pilawa, einmal hat sogar die Titanic an seinem Balkon angelegt. Heute überrascht er mit der Nachricht, dass endlich der Mörder seines Vaters gefasst worden sei. Fünf Minuten für Herrn Blazek sind ein Witz.

Kurz nach 13 Uhr stellt Marco Günther den Wagen des Pflegedienstes wieder am Hauptquartier in der Treptower Elsenstraße ab. Er schreibt 120 Kilometer ins Fahrtenbuch. Nun ist Schichtwechsel.

Für Sabine Findeisen, 47 Jahre alt, eine Gelegenheit, kurz etwas mit ihren Kollegen zu besprechen. Als Geschäftsführerin bei Schaumann & Born hat sie dafür zu sorgen, dass das Unternehmen wirtschaftlich arbeitet. Vor Weihnachten seien vier Klienten gestorben. "Bei einem Pflegeumfang von monatlich drei bis viertausend Euro pro Person können Sie sich vorstellen, was das für ein Loch reißt", sagt sie. Mit 57 angestellten Mitarbeitern ist die Treptower Pflegefirma ein mittelständisches Unternehmen. Es klingt nicht schön, aber auch der Dienst am Bedürftigen folgt dem Primat der Zahlen.

In einer Branche, die pro Jahr 27 Milliarden Euro umsetzt, wäre es eine Illusion anzunehmen, dass überall nur gute Menschen Gutes tun. Allein in Berlin konkurrieren 630 Pflegedienste. Und jedes Jahr kommen zirka zehn neue dazu. Es sei schon vorgekommen, dass morgens alle Autos eines Anbieters mit platten Reifen dastanden, sagt Sabine Findeisen. Finanziert wird die mobile Versorgung durch die Pflegeversicherung, und wenn diese nicht reicht, durch das Sozialamt oder selbstzahlende Pflegebedürftige beziehungsweise deren Angehörige. Für die Geschäftsführerin bedeutet das, dass sie mit fünf Bezirksämtern, 14 Pflegekassen und 19 Krankenkassen über ihr Budget verhandelt. "Erst warte ich wochenlang auf die Bewilligung, dann auf die Bezahlung", sagt sie. Vor allem die Bezirksämter seien immer weniger bereit, Leistungen zu unterstützen.

Sabine Findeisen, von Beruf Krippenerzieherin, ist nach der Wende in der Altenpflege gelandet und hat sich später zur Gesundheits- und Sozialökonomin weitergebildet. Die meisten ihrer Angestellten, die früher oft in den umliegenden Industriebetrieben in der Produktion gearbeitet haben, gelten im Pflegedienst als Ungelernte. In Schulungen werden sie über Krankheiten wie die Altersdemenz unterrichtet. So müssen gut vierzig Kollegen mit dem Mindestlohn von 8,50 Euro auskommen, der künftig durch Urlaubsgeld aufgebessert werden soll.

Die Pflege ist eine der am schlechtesten bezahlten Branchen in Deutschland. Selbst nach einer dreijährigen Ausbildung kommt ein Pfleger im ersten Jahr nur auf 1950 Euro, brutto. Kein Wunder, dass der Nachwuchs fehlt. "Und wenn doch mal einer von den jungen Leuten anfängt, sagt er nach einem halben Jahr, ,das ist nichts für mich'." Sabine Findeisen versteht das sogar. Man brauche schon ein bisschen Lebenserfahrung.

Rüdiger Preuß ist fünfzig und als Schlosser im Besitz mehrerer Schweißerpässe, die ihm nichts mehr nützen. Im Pflegedienst macht er jene Arbeit, die am meisten Kraft kostet und am schlechtesten entlohnt wird. Er arbeitet als Hauspfleger, seit Jahren schon in der Spätschicht. Als erstes besucht er Frau Ott, seine Lieblingsklientin. "Bei Frau Ott ist immer der Kaffeetisch gedeckt." Im Grunde sei er dafür da, aber sie lasse sich das nicht nehmen, auch wenn sie eine Ewigkeit dafür brauche. Anita Ott, 66, ist seit einer Gehirnblutung halbseitig gelähmt. Acht Jahre schon sitzt sie im Rollstuhl. Anfangs konnte sie kein Wort sprechen, mittlerweile geht es wieder ganz gut. "Zuerst bringe ich Sie mal auf die Toilette", sagt Rüdiger Preuß. Er schiebt sie ins Bad. "Allez Hopp." Für den Leistungskomplex 7a, "Hilfe und Unterstützung bei der Darm- und/oder Blasenentleerung einschließlich Entsorgung von Ausscheidungen", sind laut Katalog 3,36 Euro bei der Pflegekasse in Rechnung zu stellen. Später sorgt Rüdiger Preuß in der Wohnung für Ordnung, räumt die Küche auf, macht den Abwasch, bereitet das Abendessen vor. Abends wird er noch einmal wiederkommen und Frau Ott zur Nacht fertig machen. Für "Intimpflege und Lagerung" hat er 15 Minuten Zeit. Er braucht aber immer mindestens eine halbe Stunde. Rüdiger Preuß ist ein gründlicher Mensch. Was ihn aufregt, ist der Schriftkram. Auch bei Frau Ott muss er nach jedem Besuch fünf verschiedene Formulare ausfüllen, unter anderem ein sogenanntes Bewegungsblatt, auf dem er für diesen Nachmittag folgendes Profil einträgt: Bett-Rollstuhl-WC-Rollstuhl-WC-Rollstuhl.

Als nächstes, 15 Uhr, ist wieder Frau Czinkewitz dran. Marco Günther hatte am Morgen den Verband an einem faustgroßen Druckgeschwür auf dem Rücken gewechselt. Helene Czinkewitz, 86, leidet an schwerer Demenz. Seit einiger Zeit kann sie das Krankenbett in ihrem Wohnzimmer nicht mehr verlassen. Rüdiger Preuß bereitet die Einlage vor, das Wort Windel ist in der Altenpflege verpönt. Manchmal nimmt er sich eine Packung mit nach Hause und präpariert die Einlagen ein bisschen. Er knetet sie, bis sie weich werden und entfernt den Gummirand, damit sie an den Innenseiten der Schenkel nicht einschneiden.

"Musst du käckern?", fragt er. "Nee", antwortet sie. "Ich weiß ganz genau, wann sie muss", sagt Rüdiger Preuß, "alle vier, fünf Tage, dann setze ich sie auf den Topf. Jetzt ist es zwecklos." Er hebt die Bettdecke, streicht über die dünnen, weißen Beine der Frau und löst ihre Einlage. Dann säubert er sie mit einem Lappen. "Dit juckt so", sagt Frau Czinkewitz. Rüdiger Preuß trägt etwas Babyöl auf. Dann legt er ihr eine frische Einlage um. Als er sie auf die Seite dreht, um das Geschwür auf dem Rücken zu untersuchen, stöhnt sie. Es hilft nichts. Sie ruft: "Ick kann nich mehr!" Worauf er antwortet: "Ick ooch nich." Die ganze Zeit mit gekrümmtem Rücken, das schlaucht. Nachher deckt er sie zu streicht ihr über die Wange und kämmt ihr feines Haar. "Hör bloß uff mit der Harke", sagt sie. Im Regal steht das Bild einer jungen Frau. Rüdiger Preuß weiß nicht, wer sie ist, und Frau Czinkewitz versteht die Frage nicht. Es gibt wohl eine Tochter.

Zurück im Auto sagt Rüdiger Preuß, dass er sich keine großen Gedanken um sein eigenes Schicksal mache. "Man wird mit der Windel groß, und man verschwindet mit der Windel von der Welt." So ist das wohl.

Praktisch gesehen sind sich Kommen und Gehen des Menschen ziemlich ähnlich. Aber im Detail gibt es doch Unterschiede. Frau Kaumann zum Beispiel, die jetzt an der Reihe ist, wiegt 145 Kilo. "Das wird Stresspflege", sagt Preuß. Seit zwei Jahren liegt Ingrid Kaumann ständig im Bett. Die 71-Jährige leidet an Diabetes, Adipositas und dem daraus folgenden Verschleiß der Gelenke. Seit fünf Jahren wird sie ambulant betreut, der letzte Pflegedienst hat gerade aufgegeben. "An Dicke will keiner ran", sagt ihr Sohn Roger, 45, der im selben Haus wohnt und die Krankheiten seiner Mutter geerbt hat.

Rüdiger Preuß ist erst das zweite Mal hier. Er zieht sich die Fleecejacke aus, krempelt die Ärmel hoch und greift sich einen Einkaufskorb voller Plastikflaschen und Dosen, alles Pflegemittel, mit denen Frau Kaumann versorgt wird. Vierzig Minuten hat er. Aus dem Schlafzimmer ist fast die ganze Zeit Gewimmer zu hören, "Aua, aua, mein Po". Zwischendurch kommt Preuß ins Wohnzimmer, sein T-Shirt ist durchgeschwitzt. "Das ist eine ganz schöne Schweinerei."

Es dauert fast anderthalb Stunden, ehe er fertig ist. In die Dokumentation trägt er ein: "Frau Kaumann versorgt, Durchfall und Erbrechen, gelagert." Im Treppenhaus sagt er, dass er jede Hautfalte des Körpers von Kot reinigen musste. "Was soll man machen, dazu sind wir da." Am Monatsende kriegt er 1100 Euro auf die Hand. Sein Arbeitstag endet heute um zehn nach elf. Zu Hause geht er noch mit den Hunden raus, um ein bisschen abzuschalten. Dann fängt alles wieder von vorne an. Fünfzehn Jahre lang hat Rüdiger Preuß in der Industriemontage gearbeitet. Für ihn war es eine glückliche Zeit. Jetzt ist er schon wieder dreizehn Jahre im Pflegedienst. Er würde nicht sagen, dass ihn das glücklich macht, aber wenn Frau Ott oder Frau Czinkewitz einen Moment glücklich sind, dann ist er zufrieden."


Quelle: Frank Junghänel in http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2011/0207/seite3/0001/index.html

Frühe Grüße, heute auch nach Berlin!
Thomas Beßen
Wer heute krank ist, muss kerngesund sein.