Autor Thema: Amyothrophe Lateralsklerose (ALS)  (Gelesen 5154 mal)

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Amyothrophe Lateralsklerose (ALS)
« am: 17. Dezember 2007, 10:58:05 »
Amyothrophe Lateralsklerose
Die Kraft der Gedanken

Ursula Broermann hat ALS. Sie kann schon nicht mehr sprechen. Sie schreibt mit ihrem Gehirn

VON CHRISTINE KECK
 
Im März konnte Ursula Broermann noch sprechen. Es klang verwaschen, der Lautbrei quoll schwer verständlich aus ihrem Mund. Aber die 49 Jahre alte Frau war imstande, mit anderen zu kommunizieren. Sie konnte sagen, dass ihr Rollstuhl aus der Sonne gedreht werden soll, dass ihre Stirnfixierung drückt oder dass die Fliege auf dem Handrücken kitzelt. Dann verjagte die Krankenschwester die Fliege, bis sie sich wieder auf die Finger setzte.

Ihre Krankheit hat Ursula Broermann mundtot gemacht und nicht nur das. Sie hat ihr die Kontrolle über sämtliche Muskeln geraubt, vom Bizeps bis zur Zunge. Bewegungslos und bei vollem Bewusstsein sitzt sie in einem Elektrorollstuhl, eingesperrt in ihren eigenen Körper, ein Pflegefall mit 24-Stunden-Betreuung und Magensonde. Vor vier Jahren wurde bei ihr die unheilbare Nervenerkrankung Amyothrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert. Damals begann der schleichende Prozess der Verschlimmerung, dessen Verlauf nicht immer kalkulierbar ist. Bei dem britischen Astrophysiker Stephen Hawking ist der körperliche Verfall zum Stillstand gekommen, und der Maler Jörg Immendorf konnte ungewöhnlicherweise bis zu seinem Tod sprechen.
Bei Ursula Broermann fing die Lähmung in den Fingern an. Dann versagten die Arme, erschlaffte die Beinmuskulatur. Bei einem Spaziergang mit Freunden im Stuttgarter Schlosspark brach sogar die Atmung zusammen. Glücklicherweise war einer ihrer Begleiter Arzt, sonst würde die ALS-Patientin wohl nicht mehr leben.
Man könnte es als ein Lächeln deuten, was auf Broermanns Gesicht zu sehen ist. Die braunen Augen hinter der Brille strahlen, die Pupille bewegt sich, der Mundwinkel zuckt, der Rest gleicht dem Antlitz einer Toten, aufgeschwemmt und starr. "Auf dem Tisch stehen Plätzchen und Schwarztee. Es wird für alle, die möchten, auch Kaffee gekocht." Mit diesen Sätzen begrüßt die Hausherrin ihre Gäste in der kleinen Wohnung in Freudenstadt, sie sind auf dem Laptop zu lesen.
Der Buchstabe als Welle

Mit Hilfe des Kinns steuert Ursula Broermann einen Joystick, mit dem sie auf einer Bildschirmtastatur jeden Buchstaben einzeln auswählt. Das leise Keuchen der Beatmungsmaschine ist zu hören, und es gluckert im Hals von Ursula Broermann. Sie kann nicht mehr schlucken, die Krankenschwester saugt mit einem Schlauch aufgestauten Schleim ab.
Mit der Stille im Wohnzimmer ist es vorbei. Die Tübinger Neurowissenschaftler sind da und packen ihr "Gedankenlesegerät" aus. So nennt flapsig der Psychologieprofessor Niels Birbaumer seine Gehirn-Computer-Schnittstelle. Sie kann für ALS-Patienten das letzte Mittel der Kommunikation sein. "Das rechtzeitige gemeinsame Üben ist wichtig", sagt seine Mitarbeiterin Eva-Maria Braun vom Institut für medizinische Psychologie an der Universität Tübingen und erklärt das Geheimnis der Wundermaschine, die irgendwann dauerhaft bei den Broermanns installiert werden soll.
Die Forscher koppeln Nervenzellen an den Computer, die Software wertet die Hirnwellen aus und kann sie einem Buchstaben zuordnen. Die ALS-Patientin bekommt eine Art Bademütze mit Elektroden aufgestülpt, die mit einem Verstärker und einem Rechner verbunden sind. Sie messen die elektronischen Potenziale der äußeren Hirnrinde. Vom Rollstuhl aus schaut Ursula Broermann auf einen Bildschirm, die Buchstaben des Alphabets blitzen zeilen- und spaltenweise auf. Dann beginnt das Unfassbare. Wie von Geisterhand geschrieben, erscheint ein "l", ein "e", ein "b" am oberen Rand des Schirms.

Ursula Broermann schreibt mit der Kraft ihrer Gedanken, sie muss sich lediglich auf den gewünschten Buchstaben konzentrieren. Sie braucht keinen Stift, keinen Cursor, keine Tastatur. Akribisch korrigiert sie jeden Fehler in der Rechtschreibung. Die gelernte Apothekerin nimmt es genau - wie so vieles. Sie bittet das Pflegeteam, ihre Wünsche umzusetzen. Die Wohnung ist herbstlich dekoriert. Ein Seidentuch liegt über Hals und Beatmungsschlauch. Der Ehering steckt an der regungslosen rechten Hand.

Eine Stunde und zehn Minuten dauert es, bis der Satz fertig ist, inklusive Unterbrechungen. Mal muss der Schleim abgesaugt werden, mal scheint Ursula Broermann einzuschlafen.
Sie nimmt Morphium wegen der Phantomschmerzen in ihrem rechten Beinstumpf. Viele Jahre vor der ALS-Diagnose hat sie sich bei einem Unfall auf dem Weg zur Arbeit verletzt, harmlos, wie erst alle dachten. Doch es kam bei einer Untersuchung ein Keim ins Knie, eine Entzündung verbreitete sich; das Bein musste amputiert werden.
Ein Blinzeln heißt "Ja"

Eine Stunde und zehn Minuten lang tippt Ursula Broermann an einem einzigen Satz. Wie viele Wochen, Tage, Jahre sie noch lebt, kann keiner sagen. Bald wird sie auch das Kinn nicht mehr bewegen können, wird die Mundpartie erstarren, bleiben vermutlich die Pupillen stehen. Dann kann sie nicht mehr im Internet surfen oder an ihren autobiografischen Notizen schreiben. Ihr wird nur noch das "Gedankenlesegerät" der Tübinger Forscher bleiben, um mit anderen zu kommunizieren. Um zu sagen, dass ihr kalt ist, dass sie die Apothekerzeitung lesen möchte, dass sie es absurd findet, wenn Menschen mit ihr reden, als sei sie ein Baby oder schwerhörig. Es macht sie wütend, wenn nicht sie, sondern das Pflegepersonal angesprochen wird. Als sei sie nicht mehr zurechnungsfähig.
Sie kann ihrem Mann Ernst schreiben, dass sie ihn liebt. Der steht zu ihr in guten wie in schlechten Zeiten. Er ist mit ihr von Stuttgart nach Freudenstadt umgezogen, weil der Pflegedienst auf dem Land zuverlässiger arbeitet. Sechs Pflegedienste hatten sie zuvor. Tiefpunkte gab es viele. Hier nur einer: die Nachtschicht, die eigentlich wach bleiben soll, schlief ein, ließ sich nicht einmal durch den Notalarm wecken. Der Ehemann aus dem Nebenzimmer kam zu Hilfe.
Ingenieur Ernst Broermann, 49, arbeitet bei Daimler und pendelt jeden Tag nach Sindelfingen. Er sitzt viel seiner Frau und erzählt ihr was, sie antwortet mit dem Augenlid. Einmal blinzeln heißt "Ja", dreimal blinzeln bedeutet "Nein". Wie ein professioneller Krankenpfleger saugt er den Schleim aus ihrer Luftröhre, wischt die Spucke weg, die aus dem Mund tropft. Er ärgert sich herum mit der Krankenkasse, die immer mal wieder etwas nicht bezahlen will. Oder mit der Deutschen Bahn, die sich gerne behindertenfreundlich gibt und seine Frau im Elektrorolli manchmal einfach am Bahnsteig stehen lässt.
Das Leiden geerbt

Er erzählt vom Engagement seiner Frau, die sich früher als erste Vorsitzende des Dachverbands für integratives Planen und Bauen in Stuttgart für die Belange von Rollstuhlfahrern eingesetzt hat. Ihr Amt als erste Vorsitzende habe sie niederlegen müssen, es sei ihr schwer gefallen.

Auf eine eigene Familie haben die Broermanns verzichtet, auch wenn sie sich nichts mehr gewünscht haben. Zu hoch wäre das Risiko gewesen, dass ihre Kinder eines Tages an ALS leiden würden. Ursula Broermann musste miterleben, wie erst ihre Mutter und dann ihr Onkel langsam erstarrten und starben. Die Angst, selbst zu erkranken, ist 2003 für Ursula Broermann zur Gewissheit geworden, lange hatte sie gehofft, dass ihr genetisches Erbe sie verschone.

Ein vorzeitiger Tod, der Verzicht auf künstliche Beatmung oder Sondenernährung, kommt für Ursula Broermann nicht infrage. "Zu verhungern oder verdursten empfinde ich in unserer zivilen Gesellschaft nicht als human, es ist keine adäquate Form zu sterben", schreibt sie.
Sie kritisiert Patientenverfügungen, die in gesunden Zeiten verfasst wurden. Durch eine Krankheit änderten viele ihre Meinung, sei plötzlich wenig wieder viel. "Innerlich fühle ich mich vollkommen", schreibt Broermann und genießt es, die Wärme des Kaminfeuers zu spüren, die Rosen zu riechen. Sie lässt sich Salatdressing mit Kräutern auf die Zunge träufeln und wieder absaugen, des Geschmacks wegen. Bei der Frage, was ihr ganz besonders fehlt, muss Ursula Broermann nicht lange überlegen: "die Sprache".

Nach einer Stunde und zehn Minuten Schwerstarbeit mit dem "Gedankenleseapparat" hat Ursula Broermann ihren Satz fertig geschrieben. Auf dem Bildschirm steht: "Leben ist immer spannend, lebenswert und sinnvoll."

Aus: Frankfurter Rundschau, 15.12.2007
Wer heute krank ist, muss kerngesund sein.

Offline Thomas Beßen

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Gehör für stumme Stimmen...
« Antwort #1 am: 09. April 2008, 18:03:21 »
- hier die Ergänzung aus DER SPIEGEL 14/2008 von Marco Evers zum Thema massive Motorikausfälle für nächsten Freitag, den 11.4.08 für den Kurs K '05 HT (TB 1+2, 02 PP Motorik): "Tübinger Neuroforscher kämpfen darum, Totalgelähmte mit einer Gedankenlesemaschine das Sprechen zu ermöglichen."
Schönen & erfolgreichen Studientag morgen!
Thomas Beßen

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Wer heute krank ist, muss kerngesund sein.