Autor Thema: NEWS a. d. Gesundheitswirtschaft: Europa, Kontinent für Medizintouristen  (Gelesen 3885 mal)

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Europa, Kontinent für Medizintouristen

Zahnimplantat in Ungarn, Augen-OP in der Türkei - für ihre Gesundheit gehen immer mehr Europäer auf Reisen. Die Politik fördert das Zusammenwachsen des europäischen Gesundheitsmarktes. Kassen sollen Klinikaufenthalte im Ausland zahlen. von Julia Kimmerle 
Wenn Keith Pollard von Europa spricht, dann klingt es fast zu schön, um wahr zu sein. Ein florierender Gesundheitsmarkt aus 27 Ländern, in dem Patienten entscheiden können, wo sie gesund werden wollen - und Krankenhäuser sowie Ärzte überall Chancen bekommen, ein gutes Geschäft zu machen. "Der Markt für Medizintourismus in der Europäischen Union bietet noch so viele ungenutzte Chancen", sagt er.
Sein Portal Treatment Abroad bietet Patienten aus Großbritannien Betreuung und Beratung an, wenn sie sich im Ausland behandeln lassen wollen. Von der Krebstherapie in Deutschland bis zur künstlichen Befruchtung in Lettland - das Unternehmen hält eine große Angebotspalette bereit für die wachsende Zahl reisewilliger Patienten. 2004 zogen erst 24.000 Briten für eine Behandlung eine Reise ins Ausland in Erwägung. Im vergangenen Jahr waren es bereits 80.000. Mittlerweile vermittelt Treatment Abroad monatlich über 1000 Anfragen.
Jetzt hoffen die Patientenvermittler auf zusätzliche Unterstützung aus Brüssel. Wenn es nach der Europäischen Kommission geht, sollen bald noch viel mehr Patienten auf dem europäischen Gesundheitsmarkt medizinische Leistungen einkaufen. Ende April verabschiedete das Europäische Parlament eine Richtlinie, der allerdings noch der Rat der EU-Gesundheitsminister zustimmen muss. Reiserecht erkämpft
Sie soll den 480 Millionen EU-Bürgern die Möglichkeit einräumen, sich gezielt im europäischen Ausland behandeln lassen zu können. Die Kosten für die Behandlung sollen die Versicherungen übernehmen, und zwar in der Höhe, in der sie sie auch im eigenen Land erstatten würden. Bisher ist das nur bei ambulanten Behandlungen möglich, Aufenthalte in einem ausländischen Krankenhaus müssen von den Krankenkassen genehmigt werden.
Grundlage der Initiative sind mehrere Urteile des europäischen Gerichtshofes. Eines hatte die englische Rentnerin Yvonne Watts erstritten. Im September 2002 wurde bei ihr eine Arthrose in beiden Hüftgelenken diagnostiziert. Die damals 75-jährige hätte möglichst bald eine neue Hüfte bekommen müssen. Doch die Wartezeiten für solche Operationen sind in England lang. Yvonne Watts wartete fast ein halbes Jahr. Als sich ihr Zustand verschlimmerte, erkundigte sich die Rentnerin nach Alternativen und fand einen Arzt in Frankreich, der ihr schneller helfen konnte. Doch die englische Krankenversicherung, der Nationale Gesundheitsdienst NHS, lehnte die Auslandsbehandlung ab - eine Reise sei unnötig. Watts machte sich trotzdem auf den Weg, im französischen Abbeville bekam sie ihre neue Hüfte.
Die Kosten von 3900 Pfund streckte die Rentnerin aus eigener Tasche vor. Im Mai 2006 dann urteilte der Europäische Gerichtshof, dass der NHS für die OP-Kosten aufkommen müsse. Der Fall löste eine europaweite Debatte aus: Wie viel Freiheit kann ein Patient in Europa einfordern? Und wie viel gesetzliche Regelung ist sinnvoll? Kaum messbare Zahlen für Medizintourismus
Der Medizintourismus ist ein Phänomen, das sich schwer in Zahlen fassen lässt: Bisher gibt es kaum belastbare Daten, wie viele Europäer sich im Ausland behandeln lassen. Unklar ist schon, wer überhaupt als Medizintourist gilt. Gesundheitstourismus als Schnittstelle von Tourismus und Medizin reicht vom Wellnessurlaub in einem osteuropäischen Kurort bis zur Nasenkorrektur in der Türkei.
"Zunächst muss man unterscheiden: Spreche ich von medizinischen Wellnessangeboten, von Selbstzahlerleistungen im kosmetischen Bereich - oder von Patienten, die wegen Spitzenmedizin ins Ausland gehen, die sie zu Hause nicht bekommen können?", sagt Peter Borges von der Unternehmensberatung Deloitte. Medical Wellness gilt als Wachstumsmarkt, vor allem in Osteuropa. "Patienten, die zum Beispiel für eine Hüft-OP verreisen, sind dagegen nur ein Nischenphänomen", sagt Borges.
Nach älteren Schätzungen der Kassenverbände lassen sich jedes Jahr etwa 300.000 Deutsche im Ausland medizinisch behandeln, 2007 waren es nach einer Hochrechnung der Techniker Krankenkasse etwa 680.000 Deutsche. "Allgemein geht man bei Behandlungen im europäischen Ausland von einer Größenordnung von bis zu einem Prozent der Versicherten aus", sagt Borges. Doch das sind vorsichtige Schätzungen, denn wirklich erfasst werden nur die Behandlungen aus dem gesetzlichen Leistungskatalog, die über die Versichertenkarte im Ausland abgerechnet werden.

Versicherte vergessen ihren Auslandskrankenschein
Bei der Deutschen Verbindungsstelle der Krankenversicherung - Ausland (DVKA) gingen für 2007 etwa 550.000 Kostenrechnungen aus dem Ausland ein. Aus ihnen geht zwar hervor, dass der europäische Medizintourismus der gesetzlich Versicherten Kosten in Höhe von 220 Mio. Euro verursacht hat. "Die Zahl der Fälle könnte jedoch auch höher liegen, da manche Versicherte ihren Auslandskrankenschein vergessen und dann in diesen Zahlen nicht auftauchen", sagt Elisabeth Reker-Barske, Europa-Expertin im AOK-Bundesverband. Für Behandlungen von Patienten aus dem EU-Ausland erhielt die DVAK im Gegenzug 540.000 Kostenrechnungen.
Ein Teil davon geht auf die Behandlung von 59.000 ausländischen Patienten in deutschen Krankenhäusern zurück. Weniger als 15.000 davon hatten ihren Klinikaufenthalt tatsächlich geplant. Alle anderen waren wegen eines Notfalls in Behandlung. Die deutschen Forderungen beliefen sich 2007 auf über 250 Mio. Euro - insgesamt weniger als ein halbes Prozent der jährlichen Gesamtleistungsausgaben der GKV.Europaweite Kooperationen
Trotz der schlechten Datenlage sind Politik, Krankenkassen und Tourismusindustrie davon überzeugt, dass der Gesundheitstourismus in Europa zunehmen wird. Eine aktuelle Umfrage der Techniker Krankenkasse unter ihren Versicherten kam zu dem Ergebnis, dass sich immer mehr Patienten gezielt für medizinische Angebote im Ausland entscheiden. 2007 waren zwar mehr als die Hälfte der Behandlungen Notfälle - 40 Prozent der Reisen zum Arzt waren jedoch geplant. "Dieses Ergebnis hat uns sehr überrascht, da bisher immer von einem viel niedrigeren Anteil ausgegangen wurde", sagt Caroline Wagner, Europa-Referentin der TK.
Noch vor vier Jahren lag der Anteil der geplanten Auslandsbehandlungen bei sieben Prozent. Heute kooperiert die TK mit 71 Kliniken in Belgien, Italien, Österreich und den Niederlanden sowie 26 Kureinrichtungen in Ungarn, Polen, Italien und der Tschechischen Republik. "Durch unsere Kooperationen müssen sich die Versicherten weniger informieren, da sie sich auf eine bestimmte Qualität verlassen können", sagt Wagner. Versicherte mit niedrigem Einkommen nehmen EU-Auslandsbehandlungen besonders gerne in Anspruch, um etwa beim Zahnersatz zu sparen und die Behandlung mit einem Kurzurlaub zu kombinieren.
Dass solche europäischen Kooperationen gerade bei Zahnbehandlungen gut funktionieren, zeigt auch das Beispiel der AOK Brandenburg. Seit 2005 arbeitet die Kasse mit dem zahnärztlichen Dienstleister Medpolska und dessen Dentisten zusammen. Bisher nutzten über 500 Versicherte die Möglichkeit zur Behandlung in Polen. Die dortigen Vertragszahnärzte sprechen Deutsch, verwenden ähnliche Materialien wie ihre deutschen Kollegen, verlangen aber weniger für die Behandlung. "Für Patienten in der Grenzregion ist der Besuch beim Zahnarzt in Polen deshalb sehr praktisch", sagt ein Sprecher der AOK Brandenburg. Ungarn darf sich freuen
Auch Ungarn gehört durch das Preisgefälle zwischen alten und neuen EU-Mitgliedstaaten zu den Gewinnern des europäischen Medizintourismus. Besonders die günstigen Kuren und Zahnbehandlungen ziehen viele Patienten dorthin. Eine Studie der Wirtschaftsuniversität Wien kam zu dem Ergebnis, dass 2006 über 100.000 Patienten nach Ungarn reisten, um sich dort zahnmedizinisch behandeln zu lassen.
Für Implantate, die Patienten in England 2000 Pfund kosten würden, zahlen sie in Ungarn nur etwa 830 Pfund. Auch deutsche Patienten lockt die Aussicht auf 50 Prozent günstigere Behandlungen in die ungarischen Hochburgen des Zahntourismus, nach Budapest, Heviz, Sopron oder Mosonmagyarovar. Dort ist man voll auf das Geschäft mit den Zahntouristen eingestellt. Voraussetzung für eine Kostenerstattung durch die deutschen Kassen ist, dass der Patient einen Heil- und Kostenplan vorlegt.
Auf den Internetseiten der ungarischen Zahnkliniken können sich deutsche, englische, norwegische oder italienische Patienten genaue Informationen über das Prozedere holen. Entweder schicken die Patienten den Befund und Kostenplan eines deutschen Arztes per Mail oder Post nach Ungarn, auf dessen Grundlage dann ein zumeist günstigeres Angebot zurückgeschickt wird. Wer möchte, kann auch seine Röntgenaufnahmen verschicken und sich eine Behandlungsalternative vorschlagen lassen. Einige Kliniken bieten den Patienten sogar an, die Diagnose und Nachsorge im Heimatland zu übernehmen.

Kliniken bieten Full-Service-Angebot an

Der ungarische Anbieter Madenta etwa arbeitet mit Zahnärzten in England zusammen und betreibt eine Klinik in Dublin, um irischen Patienten Rundumbetreuung anzubieten. Jörn von der Werth unterzog sich im Kurort Heviz einer zahnmedizinischen Behandlung. Und war vor allem vom Service begeistert. Die Praxis übernimmt auf Wunsch die Organisation der Reise, die Unterbringung in einem nahen Kurhotel und den Transport vom Flughafen dorthin. Auch die Kommunikation sei kein Problem gewesen, sagt von der Werth: "Mit den Ärzten dort konnte ich mich auf Deutsch verständigen. Aber auch Englisch oder Russisch wäre kein Problem gewesen."
Nicht immer ist der Gesundheitstourismus so unproblematisch. In Irland stellte der Zahnarztverband fest, dass 75 Prozent aller Dentisten immer wieder mit der Ausbesserung fehlerhafter Auslandsbehandlungen zu tun hätten. Wer sich für Nachbesserungen an einen Arzt in Deutschland wendet, muss unter Umständen doppelt bezahlen, denn diese Kosten übernehmen die Kassen nicht. Doch die Qualität der Behandlung scheint sich zu verbessern. 2004 hatte der Medizinische Gesundheitsdienst der Krankenversicherer in Rheinland-Pfalz die Qualität von Zahnbehandlungen im Ausland untersucht.
Das Ergebnis: mangelhaft. In 48 Prozent der Fälle war die Behandlung zu beanstanden. "In einer Untersuchung von 2008 konnte man aber feststellen, dass sich vor allem bei den unkomplizierten Behandlungen die Qualität verbessert hat", so die Gutachterin des MDK, Christine Baulig. Das liege auch an der verbesserten Qualität des verwendeten Materials, das sich nicht mehr von dem unterscheide, das deutsche oder österreichische Zahnärzte verwenden. "Von dem Qualitätsargument heimischer Zahnärzte lassen sich Patienten immer weniger beeindrucken", sagt auch August Österle, Professor für Gesundheitsökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien.Übersetzungskosten könnten schnell teuer werden
Ob sich der Ausflug ins europäische Ausland lohnt, müssen sich die Patienten trotzdem genau überlegen. Denn die Krankenkassen bitten die Patienten für den erhöhten Verwaltungsaufwand zusätzlich zur Kasse: Bis zu zehn Prozent der Rechnung können dadurch noch obendrauf kommen. Übersetzungskosten sind ebenfalls nicht inklusive: "Wenn man sich die Zähne in einer kleinen bulgarischen Praxis machen lässt und eine komplizierte Rechnung hat, können die Übersetzungskosten schnell so teuer werden, dass ein Versicherter am Ende draufzahlt", sagt ein Branchenkenner. Dann bleiben dem Patienten vom medizinischen Urlaubstrip Rechnungen als Souvenir.
Für die Krankenkassen hätte die Europäisierung des Gesundheitswesens, wie sie die Europäische Kommission vorsieht, kaum Vorteile. Bei der neuen Richtlinie ist vor allem die Frage umstritten, ob Patienten in Zukunft stationäre oder hoch spezialisierte Leistungen im Ausland von den Kassen genehmigen lassen müssen. "Vor allem neue Mitgliedstaaten wie Polen oder Tschechien haben die Sorge, dass sie einen Teil ihrer Souveränität aufgeben müssten", sagt IESE-Professorin Rosenmöller aus Barcelona.
Sie befürchteten, dass die eigenen Gesundheitssysteme ausbluten, wenn sich die Versicherten bevorzugt im Ausland behandeln lassen. Andere Länder wiederum befürchten, von Patienten überrannt zu werden, wenn die Richtlinie den Medizintourismus sehr erleichtern sollte. Solche Ängste treiben vor allem Spanien um. Unter den 60 Millionen Touristen, die jedes Jahr für Sonne und Meer auf die iberische Halbinsel kommen, sind zehn Millionen über 65 Jahre, und viele von ihnen verbringen ihre Ferien im Krankenhaus statt am Strand. Allein auf den Kanarischen Inseln behandelten die Kliniken zwischen Mai und Oktober eine Million Ausländer, so der Ärzteverband Santa Cruz. Grenzregionen arbeiten am besten zusammen
Ein Großteil der Behandlungskosten in Höhe von 20 Mio. Euro sei durch Deutsche, Engländer und Belgier entstanden. Bis die spanischen Kliniken ihr Geld wiedersehen, dauert es, denn die Rückerstattung ist durch die unterschiedlichen Gesundheitssysteme nicht unproblematisch. "Hier zeigt sich, dass das Zusammenwachsen von Europa die Probleme der nationalen Gesundheitssysteme sichtbar macht", sagt Rosenmöller.
Am besten funktioniert die europäische Zusammenarbeit in Grenzregionen - wo es durch eine gemeinsame Grenze auch eine gemeinsame Vergangenheit gibt. Bislang schätzt die Arbeitsgemeinschaft Europäischer Grenzregionen die Zahl der Kooperationen im Gesundheitswesen auf 400. Sie reichen von grenzübergreifenden Reha-Angeboten bis hin zur Chemotherapie, wie sie das St. Franziskus-Hospital in Flensburg sowohl deutschen als auch dänischen Patienten anbietet. Bald soll zudem das erste europäische Uniklinikum für Patienten aus Deutschland und den Niederlanden öffnen. Das European University Hospital Aachen/Maastricht soll die spitzenmedizinische Versorgung der 3,7 Millionen Menschen in der Region übernehmen und europaweit zu einer der ersten Adressen aufsteigen.
Zwischen Aachen und Maastricht, wo bislang zwei getrennte Unikliniken standen, liegen nur 30 Kilometer. Die sollen durch ein gemeinsames Management, gemeinsame IT- und Controllingstrukturen überwunden werden. Im kommenden Jahr wird ein gemeinsames kardiovaskuläres Zentrum gebaut. "Wir sind das Modell für eine weitere Europäisierung der Spitzenmedizin", sagt der Vorstandschef der Aachener Uniklinik Henning Saß


Quelle:FTD.de, 22.10.2009
© 2009 Financial Times Deutschland
(http://www.ftd.de/politik/europa/:gesundheitswirtschaft-europa-kontinent-fuer-medizintouristen/50022785.html)