Autor Thema: Wer kein Geld hat, stirbt früher  (Gelesen 3714 mal)

Offline Thomas Beßen

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Wer kein Geld hat, stirbt früher
« am: 10. September 2009, 06:36:50 »
Vorabdruck "Gemeinsam statt einsam"

Der Sozialdemokrat Henning Scherf fordert in seinem Buch "Gemeinsam statt einsam" eine Reform des Gesundheitssystems. Die deutsche Zwei-Klassen-Medizin sei barbarisch und verfassungswidrig.
Von Henning Scherf

Was Mangel an Solidarität im Gesundheitswesen eines Landes anrichten kann, lässt sich derzeit sehr gut in Deutschland beobachten. Das fängt bei der Finanzierung der Gesundheitsversorgung an.

Warum können Angestellte, deren Bruttoeinkommen drei Jahre lang über der Versicherungspflichtgrenze von zurzeit 48150 Euro im Jahr liegen, die gesetzliche Krankenversicherung verlassen? Damit entziehen sich ausgerechnet die Wohlhabenden der gesetzlichen Krankenversicherung. Unser Gesundheitssystem braucht dringend eine neue, solidarische Finanzierung. Die immer niedrigeren Einkommen einer zunehmend schmaler werdenden Mittelschicht tragen nicht mehr das gesamte System. Da wird es Zeit, neben den Arbeitseinkommen der einen die Vermögen der anderen einzubeziehen.

Wir alle haben gesundheitliche Risiken, die mit unseren Biographien verbunden sind und nicht mit den Beschäftigungsverhältnissen. Ein solidarisches Finanzierungskonzept, das alle einbezieht, ist die Bürgerversicherung. Hierbei zahlt jeder gemäß seinem Einkommen, egal ob es aus Erwerbsarbeit, Aktien oder Immobilien stammt, einen Beitrag in die Gesundheitskasse ein. Dieses System belastet die Vermögenden mehr und die Armen weniger und vor allem: Es schließt alle Versicherten mit ein. Dieser Ansatz muss weiter gedacht werden.

Die Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung betrifft auch den Bereich, der öffentlich finanziert wird. Nirgendwo wächst der private Klinikmarkt so schnell wie in Deutschland. Nach Angaben des Bundesverbands Deutscher Privatkliniken ist die Zahl der Kliniken in privater Trägerschaft von 1996 bis 2007 um 41,6 Prozent gestiegen. Ihr Marktanteil beträgt heute rund 28 Prozent.

In privatisierten kliniken sind dramatische Folgen absehbar

Da tritt ein Unternehmer oder ein Konsortium gegenüber einer finanzgebeutelten Kommune auf und verspricht, die Klinik leistungsfähiger und billiger zu machen. Und sobald die Klinik übernommen ist, geht es nur noch ums Geldverdienen. Klinikbetreiber Marseille spricht offen von Gewinnmaximierung im Krankenhaus und Pflegebereich. Da ist dann plötzlich nicht mehr das Gesundwerden der Anlass für die ganze Veranstaltung, sondern eine Rendite von zehn und mehr Prozent.

In Kliniken, die radikal privatisiert werden, sind dramatische Folgen für die Beschäftigten und Patienten absehbar. Da wird gepresst, über die Gehälter, über die Stellen, über die Pflegequalität. In einem Offenen Brief an die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt berichteten Betriebsräte und Verdi-Vertrauensleute im Oktober 2008, wie die Renditen privater Krankenhauskonzerne zustande kommen - durch noch weniger Personal als die ohnehin schon knappe Personalbesetzung in der Branche, besonders hohe Arbeitsbelastung, in den Servicebereichen häufig besonders niedrigere Bezahlung, besonders schlechte soziale Sicherung der Arbeitskräfte, durch konzerneigene Leiharbeitsfirmen, die die Löhne drücken, durch eine immer stärkere Industrialisierung der Krankenversorgung und und und.

Dabei muss man bedenken, dass private Krankenhauskonzerne Anspruch auf Investitionsförderung durch die Länder wie alle anderen Krankenhäuser haben. Nur ein Beispiel: 2007 stammten von den Investitionen der Fresenius Helios 46,6 Prozent des Geldes aus öffentlichen Mitteln. Das ist absurderweise mehr, als die meisten öffentlichen Häuser bekommen. (...)

Dass solche Geschäfte im Namen der solidarischen Gesundheitsversorgung möglich sind, empfinde ich als organisierten Zynismus. Dabei möchte ich nicht Privatisierung in Gänze verdammen. Wir bemühen uns in Bremen um eine Zwischenform. Da bleibt die öffentliche Hand weiter Besitzer eines Klinikums, das aber eine selbstständige Struktur erhält, innerhalb derer es sorgsam wirtschaften muss. (...)

Es spricht ja nichts dagegen, mit spitzem Stift zu rechnen und zu überlegen, was man sich als Klinik auf Kosten der Allgemeinheit leisten kann und was die Kassen nicht mehr tragen. Medizinische Hilfe ja, Misswirtschaft nein. Die komplette Privatisierung des Gesundheitswesens aber würde ausgerechnet jene dem Markt überlassen, für die das System gegründet wurde - die Kranken und Schwachen.

Wer kein Geld hat, stirbt eben früher? Barbarisch. Doch genau dies geschieht in Deutschland. Wer das deutsche Gesundheitssystem genau betrachtet, erkennt schnell ein Zwei-Klassen-System. Wer zum einkommensschwächsten Viertel der Deutschen gehört, stirbt - statistisch gesehen - zehn Jahre früher als jemand aus dem reichsten Viertel.

Besonders betroffen sind Obdachlose, Erwerbslose, Alleinerziehende, Kinder bis zu 15 Jahren und Migranten. Das ergab eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft. Kassenpatienten müssen nach einer Studie des Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie im Schnitt dreimal länger auf einen Termin beim Facharzt warten als Privatversicherte. (...)

Gesundheitssystem auf falsches Gleis gesetzt

Eine zusätzliche Spaltung erfährt das System dadurch, dass immer mehr medizinische Leistungen privat bezahlt werden müssen. Und da verzichtet eben mancher auf den zusätzlichen Ultraschall. Hinzu kommt die Praxisgebühr, mit der Rot-Grün der Unsitte entgegenwirken wollte, dass Patienten von einer Praxis zur anderen laufen. Doch anstatt jene einsamkeitsgetriebenen Ärztehopper zu treffen, trifft diese Gebühr jene, die sich die zehn Euro im Quartal kaum leisten können und dann lieber krank zuhause bleiben. Die anderen erkaufen sich nun eben ihre Zuwendung. Oder die Zuzahlungen für verordnete Medikamente - wer sich die nicht leisten kann, verzichtet eben auf die notwenigen Pillen.

Hier ist unser Gesundheitssystem auf ein falsches Gleis gesetzt worden. Auch wenn ich als Mitglied einer Landesregierung diesen Weg mitgegangen bin, will ich im Nachhinein nicht so tun, als sei der richtig. Die Überlegung war zwar richtig, den Finanzdruck des Systems zu mildern, zu verhindern, dass die Lohnnebenkosten durch die Kassenbeiträge immer höher steigen und dadurch Arbeit noch teurer wird. Der Ansatz war richtig, nach Fehlplatzierungen von Mitteln im Gesundheitssystem zu suchen.

Doch wir haben bei unserem Versuch, das Gesundheitswesen finanzierbar zu machen, gegen unseren Willen dazu beigetragen, dass wir heute eine neue Klassenmedizin in der Republik beklagen müssen und eine medizinische Versorgung haben, die verfassungswidrig ist.

Denn es betrifft die Menschenwürde, wenn meine Krankheiten nicht hinreichend behandelt werden - nur, weil ich kein Geld habe. Wenn Ärzte an Privatpatienten 25 bis 30 Prozent mehr als an Kassenpatienten verdienen, muss man doch fragen: Warum soll der Beinbruch eines Armen weniger wert sein als der Beinbruch eines Reichen?

Es kann auch nicht sein, dass Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus keine reguläre Behandlung in Deutschland erhalten, wenn sie krank werden oder verunfallen. Die Menschenwürde hängt nicht an Papieren. Es muss dafür Töpfe geben, dass unsere Ärzte diese Menschen behandeln können - egal, ob ein Krankenhaus kommunal, freigemeinnützig oder kommerziell organisiert ist. Die in Deutschland nahezu ständische Gesundheitsversorgung muss ein Ende haben. Dafür braucht es mehr als nur eine neue Finanzierung und einen gerechteren Zugang zu Ärzten und Leistungen.

Wer gerade den Ärmeren unter uns helfen will, muss dafür sorgen, dass unsere medizinische Versorgung die Richtung wechselt. Nicht der Mensch muss zu ihr kommen, sondern sie muss zum Menschen kommen. Häufig ist es das eigene Gesundheitsverhalten, wie mangelnde Bewegung oder zu fette und süße Ernährung, das dafür sorgt, dass sozial Schwächere früher sterben. Die Politik würde es sich zu einfach machen, wenn sie sich dahinter verstecken würde, die Armen seien schließlich selbst Schuld an ihrem früheren Tod. Richtig ist: Unsere Gesundheitsversorgung erreicht offensichtlich diese Menschen nicht.

Gesundheitsversorgung in Deutschland ist an der aufgeklärten, selbstverantwortlichen Mittelschicht orientiert. Jene, die sie aber am nötigsten haben, werden am wenigsten erfasst. Hier muss man ansetzen. Der Sozialmediziner Gerhard Trabert fordert etwa niederschwellige Angebote in sozialen Brennpunkten. Das kann ein Impfabend im Gemeindezentrum sein, das Arztmobil, das zu den Obdachlosen fährt, oder die Kurzzeitbetreuung für Kinder, damit Alleinerziehende zum Arzt gehen können.

Aufsuchende Gesundheitsversorgung gab es schon einmal in Deutschland. In der Weimarer Republik haben vor allem jüdische Mediziner in Berlin vorgelebt, wie öffentliche Gesundheitsversorgung, Public Health, aussehen kann. Ärzte, die später von den Nazis umgebracht oder aus dem Land getrieben wurden. (...)

Diese aufsuchende medizinische Versorgung ist in den Hauptgesundheitsämtern nach dem Krieg wieder aufgenommen worden. Doch war sie stets unterfinanziert. Die Kommunen bekommen kein Geld mehr für Reihenuntersuchungen oder Impfaktionen, weder von den Krankenkassen, noch von Bund oder Ländern. . (...)


Guten Morgen!
Thomas Beßen


Quelle: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/doku_und_debatte/?em_cnt=1932474&em_cnt_page=1

Der Autor, Henning Scherf trat mit 25 Jahren in die SPD ein. Von 1975 an war er Mitglied der Bremer Bürgerschaft und von 1995 bis 2000 Bürgermeister der Stadt. Sein neues Buch sieht in der Solidarität den Weg aus der Krise. Henning Scherf (mit Uta von Schenk): Gemeinsam statt einsam. Meine Erfahrung für die Zukunft. Herder-Verlag Freiburg, 220 Seiten, 18,95 Euro.

Wer heute krank ist, muss kerngesund sein.