Autor Thema: "Die Leiche soll ästhetisch sein"  (Gelesen 4470 mal)

Offline Thomas Beßen

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"Die Leiche soll ästhetisch sein"
« am: 28. Juli 2009, 07:43:16 »
Als Plastinat zu enden, ist für viele Menschen denkbar. Praktika am Seziertisch sind begehrt. Der Soziologe Knoblauch über den postmortalen Körperkult.

Seit November 2008 leitet der Soziologe Hubert Knoblauch von der Technischen Universität Berlin das Forschungsprojekt "Tod und toter Körper", das von der Volkswagen-Stiftung gefördert wird. 17 Wissenschaftler, darunter Mediziner, Philosophen und Rechtswissenschaftler, untersuchen am Beispiel der Sektion, wie sich der Umgang mit dem Tod in unserer Gesellschaft ändert. Auf einer Konferenz in Berlin stellten sie jetzt erste Ergebnisse vor.

SZ: Rechtsmediziner in München berichten konsterniert, dass sich mittlerweile bereits 14-jährige Schülerinnen um Praktika im Obduktionssaal bewerben.

Knoblauch: Wenn diese Schülerinnen tatsächlich vorgelassen würden zum Seziertisch, dann wären sie wohl schockiert, wie Leichen in der Forensik aussehen können.

SZ: Womöglich haben sich die Mädchen ja mit Kriminalfilmen und gerichtsmedizinischen Sendungen wie CSI ein realitätsnahes Bild gemacht.

Knoblauch: Die ganze Wirklichkeit findet in diesen Sendungen auch nicht statt, eine von Würmern befallene Leiche sieht anders aus als das übliche Mordopfer im "Tatort". Aber es stimmt: Seit ungefähr 2000 wird der Tod deutlich realistischer gezeigt, als es noch vor wenigen Jahren vorstellbar war. Der tote Körper ist zum Modethema geworden.

SZ: Irrt also der viel zitierte französische Historiker Philippe Ariès, der seit dem Mittelalter ein Verschwinden des Todes aus dem Leben konstatiert hat?

Knoblauch: Es gibt widersprüchliche Entwicklungen, das ist unser Forschungsthema. Im öffentlichen Diskurs ist der Tod kein Tabu mehr. Es wird ununterbrochen über ihn geredet. Es gibt die Hospizbewegung und neue Begräbnisrituale. Aber dem realen Tod begegnen dennoch immer weniger Leute. Obwohl die Menschen von der Rechtsmedizin im Spielfilm fasziniert sind, lassen sie ihre Angehörigen nicht mehr obduzieren. In Österreich - wo die rechtlichen Regelungen sehr liberal sind - ist die Obduktionsrate dennoch binnen 20 Jahren von fast 100 auf gut 30 Prozent gesunken, in Deutschland sind es nur noch 2 bis 3 Prozent.

SZ: Warum sind Obduktionen überhaupt so wichtig?

Knoblauch: Nur so kann man eine brauchbare Todesursachenstatistik erstellen. Das ist wichtig für die Epidemiologie. Totenscheine nennen häufig die falsche Ursache. Hinzu kommt, dass nach Angaben von Rechtsmedizinern wegen fehlender Obduktionen jährlich mindestens 1200 Morde unentdeckt bleiben, vielleicht sogar doppelt so viele!

SZ: Man kann es verstehen, wenn es Menschen bei der Vorstellung graust, dass ihre nächsten Angehörigen aufgeschnitten werden.

Knoblauch: Freilich - dennoch stellt sich die Frage, wieso die Obduktionsbereitschaft gerade dann abnimmt, wenn man ansonsten eher unverkrampfter mit dem Tod umgeht. Zu einem Teil könnte es an den Strukturen in den Krankenhäusern liegen: Die Pathologie verliert zunehmend an Ansehen innerhalb der Medizin, und auch die finanzielle Erstattung macht die Sektion keineswegs besonders attraktiv für die Ärzte. Ich vermute allerdings, dass auch die Betroffenen ihre Einstellung geändert haben.


Morgendliche Grüße, vor allem an den Kurs K 2007 HT (der im August eine Exkursion in die Pathologie der Uniklinik Gießen plant)!
Thomas Beßen

Quelle & mehr hier: http://www.sueddeutsche.de/wissen/258/481727/text/ (Interview: C. Weber)
Wer heute krank ist, muss kerngesund sein.