- so heißt ein Artikel von Franziska Schubert, den ich gestern in der Frankfurter Rundschau (S. 14/15) gelesen habe:
"An manchen Wochenenden dachte Sabine Becker (Name geändert), dass sie keine Kraft mehr haben würde, montags wieder im Krankenhaus zu arbeiten. "Ich musste weinen, obwohl es gar keinen Anlass gab", sagt die 43-Jährige. Sie war völlig überfordert und überarbeitet. Becker arbeitet als Stationsleiterin in einer Frauenklinik. 250 Überstunden hat sie angehäuft. Oft kam sie erst um 18 Uhr heim nach einem zehnstündigen Arbeitstag.
"Wenn zu Hause Chaos war, bin ich ausgerastet", berichtet die alleinerziehende Mutter. Sie sei einfach explodiert. Obwohl es oft nicht gerechtfertigt gewesen sei. Schließlich sei ihre Tochter erst elf, aber für ihr Alter sehr selbstständig. "Meine Tochter fing dann sogar an, mich zu betreuen und bot mir ihre Hilfe an", sagt Becker. "Aber ich will nicht, dass meine Tochter mir helfen muss", sagt sie, "dafür sind wir beide noch zu jung".
Am Arbeitsplatz konnte sich Becker nur noch schlecht konzentrieren. Oft wachte sie schon ein, zwei Stunden vor dem Wecker auf. "Ich war gereizt, depressiv und hatte keine Kraft mehr", sagt sie. Becker hat ein ernstes Problem, das laut einer Studie des Sigmund Freud Instituts und der Technischen Universität Chemnitz viele Beschäftigte belastet: Die meisten Angestellten hielten die ständige hohe Arbeitsbelastung und das hohe Innovationstempo nicht aus, heißt es darin.
Deutsche Arbeitsplätze geben häufig ein erschreckendes Bild ab: Burn-Out, Erschöpfung und psychische Probleme sind die Folge zunehmender Überarbeitung. Und zwar nicht nur in Unternehmen, sondern auch in sozialen Einrichtungen wie Altenheimen, Jugendzentren, Krankenhäusern und Behörden. "Müdigkeit und Gereiztheit, die man nicht mehr los wird, sind ein Zeichen für das Burn-Out-Syndrom", sagt Rolf Haubl vom Frankfurter Sigmund-Freud-Institut.
In der Studie geben mehr als 80 Prozent der Befragten an, dass psychophysische Belastungen bei den Beschäftigten zunehmen. Befragt wurden rund 1000 Berater der Deutschen Gesellschaft für Supervision, in deren Auftrag die Studie erstellt wurde.
Raubbau an Seele und Körper
Vor allem bei Mitarbeitern von Non-Profit-Organisationen beobachten die Supervisoren aufgrund von Arbeitsüberlastung einen Raubbau an Seele und Körper, der manchmal sogar ihre Familien mit in die Krise stürzt.
Von der gepriesenen Work-Life-Balance ist vielfach nichts mehr übrig: Väter und Mütter verlassen das Haus, bevor ihre Kinder aufstehen und kommen erst zurück, wenn diese längst im Bett liegen. Beschäftigte sind bisweilen so gestresst, dass sie nur noch zynisch reagieren und Veränderungen resigniert hinnehmen. Becker berichtet, das Klima im Krankenhaus habe sich in den 21 Jahren, seit sie dort arbeitet, stark verändert. "Früher waren alle freundlich und locker", sagt sie. "Wenn jetzt ein Patient nach dem Weg fragt, kriegt er schon mal eine mürrische Antwort."
Sie merkt vielen ihrer Kollegen an, dass sie total überarbeitet sind und "jeder nur noch nach sich guckt". Denn Überstunden sind keine Ausnahme mehr, sondern die Regel ganz gleich, ob es sich um Chefs oder einfache Angestellte handelt. Die meisten Beschäftigten arbeiteten regelmäßig mehr, gibt die große Mehrheit der befragten Supervisoren an.
Laut Studie müssten aber vor allem Männer aufhören, unbegrenzte Belastbarkeit verkörpern zu wollen. Für sie gelte es zu lernen, Entlastung nicht als Schwäche zu sehen. Gerade Leistungsträger brüsteten sich gern mit ihrer Überarbeitung, als handele es um eine besondere Auszeichnung. "Was bleibt mir schon anderes übrig, als durchzuhalten?", fragt dagegen Sabine Becker. Auf ihrer Station hätten sie bereits alles probiert, um die Arbeitsbelastung zu drosseln. Immerhin bekämen sie derzeit für ein paar Stunden in der Woche Unterstützung von einer Hilfskraft. Außerdem soll ein externer Prüfer nun feststellen, ob es noch Optimierungsmöglichkeiten gibt. "Aber dass bei uns eine zusätzliche Stelle geschaffen wird, ist einfach nicht drin", bemerkt Becker. Große Zuversicht, dass die Überlastung künftig abnimmt, hat sie deshalb nicht.
Keine Zeit für ein Gespräch
"Die einzige Möglichkeit, den Stress zu reduzieren, wäre, mich weiter zu qualifizieren und im Krankenhaus aufzuhören", sagt Becker, "doch eigentlich will ich gar nicht weg vom Patienten". Ein heikler Punkt, denn schon jetzt steckt Becker bei der Patientenbetreuung in einem Dilemma. Oft hat sie so viel zu tun, dass sie manchmal darüber hinweg sieht, wenn eine Patientin deprimiert wirkt. Sie unterdrücke dann den Impuls, die Frau anzusprechen: "Ich kann mir einfach nicht genug Zeit für ein Gespräch nehmen."
Vielerorts haben außerdem die Sorgen um die berufliche Zukunft zugenommen. Das sagen rund 80 Prozent der Befragten. Viele haben Angst, ihren Job zu verlieren. Auch der Anstieg unsicherer Arbeitsverhältnisse, befristete Verträge, Leiharbeit oder Scheinselbstständigkeit, belasteten. Auf die Unsicherheit reagierten Mitarbeiter immer öfter mit Entsolidarisierung und Konkurrenzdenken.
Professor Haubl berichtet von einer Krankenhausabteilung, in der sich früher alle freuten, wenn eine der Schwestern schwanger wurde. "Jetzt ist es für die anderen eine Katastrophe, weil die Stelle der Schwangeren nicht besetzt wird, und es für die anderen Mehrarbeit bedeutet", berichtet Haubl. "Das emotionale Band zwischen den Kollegen ist zerstört", betont er. *
In Beckers Team jedoch versuchen die Kolleginnen einander zu helfen: Denn alle leiden unter der Arbeitssituation. Außer Becker hat noch eine weitere Krankenschwester mit dem Burn-Out-Syndrom zu kämpfen. "Wir versuchen, die Kollegin dann zu schonen, ihr Arbeit abzunehmen oder ihr einen Tag freizugeben", sagt Becker. "Aber das geht zu Lasten der anderen", die auch so kaum wüssten, wie sie das alltägliche Arbeitspensum bewältigen sollen.
Hat Becker in der Chemotherapie Dienst, muss sie sich am Tag im Schnitt um sieben Patientinnen kümmern. "Bei der Auswahl der richtigen Infusion und der Dosierung muss ich hochkonzentriert sein, aber ständig kommt etwas dazwischen", sagt sie. Außerdem seien die Patientenzahlen gestiegen, da Chemotherapie immer öfter verschrieben werde. "Viele Patienten bekommen die Chemotherapie nun einmal in der Woche und nicht mehr wie früher alle vier Wochen", sagt Becker. Jede Behandlung muss sie abrechnen und dokumentieren. Becker und ihre Mitarbeiter beraten die Krebspatienten nicht nur, sie organisieren auch die häusliche Pflege.
Oft können sich die Betroffenen nicht mehr selbst versorgen. Also kümmert sich das Krankenhaus-Team darum, dass Pfleger zu den Patienten nach Hause kommen, organisieren Essen auf Rädern und beauftragen bei Bedarf den Schmerzdienst.
Selbswertgefühl angeknackst
Oft sind es der Studie zufolge aber auch die ständigen Neuerungen, die die Mitarbeiter überfordern. "Kaum ist eine Innovationswelle angelaufen, leitet ein neuer Chef schon die nächste ein", sagt Haubl. Oft würden dabei kurzfristige ökonomische Ziele verfolgt. Aber den Mitarbeiter wird nicht erklärt, warum das notwendig sei.
"Viele verstehen den Sinn von Veränderungen nicht mehr, weil sie gar nicht wissen, wie die Firma funktioniert", sagt der Professor für Soziologie. In ihrer Summe trügen die Entwicklungen dazu bei, dass die Verbundenheit der Mitarbeiter mit dem Arbeitgeber abnehme. Diese Einschätzung teilen mehr als drei Viertel der Befragten. Vor allem Menschen, die sich stark mit ihrer Arbeit identifizieren, deprimieren derartige Zustände. "Auch ihr Selbstwertgefühl ist deutlich angeknackst", sagt Haubl. Manche Mitarbeiter hätten deshalb innerlich schon längst gekündigt. Sabine Becker macht weiter. Sie nimmt Medikamente gegen die Erschöpfung und andere zur Beruhigung. Ihr Arzt hat ihr eine Kur empfohlen. Aber sie wird wohl erstmal nicht dazu kommen."
Ziemlich ratlose sonntägliche Grüße!
Thomas Beßen
* gestern erfuhr ich, dass ich (zum ersten Mal) Großonkel werden würde, von meinem lieben Neffen und seiner Frau - er ist Gesundheits- und Krankenpfleger und sie Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin... (ich freu' mich drüber, und zwar riesig!)