Autor Thema: Helfen und Sterben  (Gelesen 2894 mal)

Offline Thomas Beßen

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Helfen und Sterben
« am: 11. Februar 2009, 16:49:18 »
"Eluana Englaro ist tot. Nach einem langen Kampf, der ihn durch alle Instanzen der italienischen Justiz führte, hatte Eluanas Vater das Recht seiner Tochter zu sterben durchgesetzt. Am Freitag vergangener Woche stellten die Ärzte die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr der Patientin ein, siebzehn Jahre des Wachkomas sind zu Ende. Der Streit um Sterbehilfe aber wird anhalten, zu nah ist jedem von uns die Angst, auch einmal hilf- und bewusstlos dazuliegen. In Italien ist der Meinungskampf mit großer Schärfe geführt worden, von einem "scheußlichen Mord" sprach der Vorsitzende des Päpstlichen Rates für Gesundheitsfragen. Das wird man kaum akzeptieren können. "Scheußlicher Mord" - das heißt doch wohl: gegen jedes moralische Empfinden verstoßend.

Das Problem der Sterbehilfe aber ist gerade, dass hier das moralische Empfinden so unklar wird. Was schulden wir dem Sterbenden oder dem Koma-Patienten? Und hat über dessen Belange hinaus möglicherweise auch die Gesellschaft noch Rechte? Schon die Unterscheidung von aktiver und passiver Sterbehilfe ist ja höchst fragwürdig. Ein qualvoll Sterbender oder ein Koma-Patient erhält von seinem Arzt eine todbringende Spritze, ein anderer wird nicht mehr künstlich ernährt und stirbt so. In beiden Fällen führt der Arzt den Tod seines Patienten herbei. Und doch geht das moralische Empfinden der meisten Menschen hier auseinander - und das Urteil nach dem deutschen Strafrecht auch. Zugunsten der passiven Sterbehilfe heißt es dann gern, hier lasse der Arzt in Übereinstimmung mit dem Patienten oder dessen Angehörigen ja nur "dem Leben seinen Lauf". Das stimmt zwar, aber dem Leben seinen Lauf zu lassen, das ist sonst ja eben nicht die Sache des Arztes. Seine Pflicht, durchaus auch strafrechtlich bewehrt, ist es, dem natürlichen Gang der Dinge entgegenzuwirken.

Ganz neu ist das Dilemma nicht. Auch vor fünfzig und hundert Jahren war den Ärzten klar, dass die Morphium-Gabe das Leben des Todkranken verkürzen, vielleicht sogar beenden konnte. Aber die moderne Medizin, vor allem die Intensivmedizin, hat das Problem gewaltig verschärft. Sie hat die Fristen des Leidens ausgedehnt, und sie hat überhaupt erst ermöglicht, dass Koma-Patienten über Jahre dahindämmern. Während "Fortschritt" sonst "Problemlösung" heißt - und in den meisten Fällen "beschleunigte Problemlösung" - wirkt die Intensivmedizin in Fällen wie dem der Eluana Englaro in die entgegengesetzte Richtung. Damit überfordert sie unsere Geduld.

Und ein Zweites ist in den vergangenen Jahrzehnten anders geworden, es ist das Interesse der Öffentlichkeit. Wer sich vor 50 Jahren seinem Tod entgegenquälte, der tat das allein oder im Kreis der Angehörigen. Hatte er Glück, so half ihm ein Arzt über das Schlimmste hinweg. Wurde dabei die Grenze zur Sterbehilfe überschritten, so erfuhr davon niemand, zumindest wurde darüber nicht öffentlich gesprochen. Die Unantastbarkeit des Lebens stand als Grundsatz nicht in Frage.

Im einzelnen Fall aber - vielleicht zu selten, vielleicht zu oft - brach sich dann das Gefühl Bahn, hier müsse der Grundsatz zurücktreten vor der Not des Einzelfalls. Das empfand, wer davon wusste, wohl als mitleidig oder gnädig und nicht selten auch als anmaßend. Das macht deutlich, warum mit dieser Praxis nicht mehr weiterzukommen ist. Eine solche Entscheidungsfreiheit dem Patienten gegenüber billigen wir dem Arzt nicht mehr zu. Alles läuft auf Machtkontrolle hinaus, was heißt: Öffentlichkeit und klare Kriterien.

Die freie Willensentscheidung des Einzelnen könnte ein solches Kriterium sein. In vielen Fällen aber liegt eine solche Entscheidung nicht vor. Auch bei Eluana Englaro musste ihr Vater einzelne Äußerungen der jungen Frau heranziehen, um plausibel zu machen, was wohl ihrem Willen entsprochen hätte. Dass das Ende eines so langen Komas humaner sein kann als die technisch mögliche Verlängerung, das werden in Deutschland wohl die meisten so sehen. Aber was ist das Humane an einem solchen Ende? Dass die bewusst- und vernunftlose Existenz des Komatösen nicht mehr menschlich wäre? Das ist ein hochgefährliches Argument. Es gäbe Dritten und zuletzt der Justiz das Recht, zu entscheiden, was menschenwürdig ist.

Wahrscheinlich wird man sich doch auf den mutmaßlichen Willen der Patientin berufen müssen. Aber auch das ist schwierig. Denn wo erst einmal eine Reihe freier Entscheidungen gefallen ist, da sind die folgenden Entscheidungen vorbestimmt; das hat schon die Klassiker des Liberalismus mit Sorge erfüllt. Langes Leiden ist eine menschliche Belastung für Angehörige und eine finanzielle für die Allgemeinheit. Wer als Schwerkranker heute aus dem Leben scheidet, aus freiem Entschluss oder unter der Fürsorge der Angehörigen, der gibt denen ein Beispiel, die dazu noch nicht bereit sind. Es ist das Argument der schiefen Ebene, intellektuell nicht sehr attraktiv, aber man ahnt, was dabei herauskommen wird. Vor acht Jahren haben die Niederlande die Euthanasie durch Ärzte erleichtert. Heute tragen, wie man hört, eine Reihe Bürger dieses Landes, vor allem alte, eine kleine Karte mit sich: "Maak mij niet dood, Dokter"."

Mit nachdenklichen Grüßen
Thomas Beßen

Der Text stammt von Stephan Speicher in: http://www.sueddeutsche.de/251386/445/2753013/Helfen-und-Sterben.html
Wer heute krank ist, muss kerngesund sein.