Ein Artikel von Stefan Selke in der Frankfurter Rundschau vom 10. Januar 2009:
"Gut fünfzehn Jahre ist es her, dass in hiesigen Medien von der neuartigen Gründung einer "Berliner Tafel e.V." berichtet wurde - dem Nukleus der daraus erwachsenden deutschen "Tafelbewegung". Das Vorbild war die Gründung der Einrichtung "City Harvest" in New York im Jahre 1983. Die Grundidee ist so bestechend wie einfach: Überschüssige Lebensmittel werden eingesammelt und kostenlos an bedürftige Menschen und soziale Einrichtungen verteilt.
Heute versorgen in der Bundesrepublik rund 800 Lebensmitteltafeln - etwa dreimal so viele wie noch im Jahr 2000 - fast eine Million Menschen mit dem Notwendigsten. Täglich arbeiten Zehntausende ehrenamtliche Helferinnen und Helfer daran, dass alle Menschen "ihr täglich Brot" bekommen, und noch einiges mehr. Sie sammeln Lebensmittel, die ansonsten vernichtet würden, und verteilen sie weiter. Die Tafelbewegung gilt damit als die größte Bürgerbewegung der Bundesrepublik und wird inzwischen von überregionalen Unternehmen und prominenten Großspendern, wie etwa Daimler, Aldi, Lidl und Rewe, unterstützt.
Dennoch ist die Tafellandschaft letztlich noch eine "terra incognita" - vor allem für die Menschen, die von Armut selbst nicht betroffen sind. Denn Tafeln sind eine Reaktion auf die wachsende Armut. Sie sind die Hinterbühne des erodierten Wohlfahrtsstaates und gehören inzwischen stillschweigend zu dessen Normalausstattung. Das Motto der Tafelbewegung lautet: "Jeder gibt, was er kann." Tafeln versorgen Woche für Woche bedürftige Menschen mit Waren aus der Überproduktion der Lebensmittelbranche oder mit Lebensmitteln, die kurz vor dem Haltbarkeitsdatum stehen. Sie stellen damit die mehr oder weniger komplementäre Versorgung immer größerer Bevölkerungsteile sicher und ersetzen auf diese Weise schleichend Fürsorgeleistungen des Staates. (…)
Hoch ambivalent ist dabei die Rolle, die den Spendern zukommt. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob sie das Tafelwesen erst ermöglichen und in Gang halten. Schaut man jedoch genauer hin, wird deutlich, dass die Spender ebenfalls von den Tafeln profitieren.
Allein in Deutschland werden jährlich 400 Millionen Tonnen Abfall produziert. Die Spuren der Wegwerfgesellschaft finden sich überall. "Kaufen, auspacken, wegwerfen", scheint die Formel für unseren modernen Lebensstil zu sein. Ein Teil dieser schnell und scheinbar mühelos entsorgten Waren sind auch Lebensmittel.
Dahinter "stecken" letztlich wir alle: Als übermäßig anspruchsvolle Kunden machen wir das Tafelwesen erst möglich. Wir, die wir einen Apfel schon dann nicht mehr kaufen, wenn er eine leichte Druckstelle hat. Wir, die wir eine Packung, die aufgerissen ist, wie selbstverständlich im Regal liegen lassen. Erst unsere Anspruchshaltung erzeugt den allgegenwärtigen Überfluss. Von dessen Zweitverwertung ernähren sich die bedürftigen Menschen.
Und hier trifft man auf eine ganz andere Problemdimension. Hier geht es nicht darum, dass immer mehr Gebrauchsgegenstände so konstruiert werden, dass sie durch Neukauf statt Reparatur ersetzt werden müssen. Sondern darum, dass einfach zu viele Lebensmittel produziert werden und dann - in voll genussfähigem Zustand - auf dem Müll landen. Lebensmittelhersteller produzieren stets 120 bis 140 Prozent des Bedarfs, damit Engpässe, Verkaufsschwankungen, Transportprobleme und andere Störungen ausgeglichen werden können. 20 bis 40 Prozent werden also bewusst für den Müll produziert.
Tafeln und Supermärkte befinden sich daher oft in einem symbiotischen Verhältnis. Insgesamt holen die Tafeln jährlich gut über 100 000 Tonnen brauchbare Lebensmittel ab. Das geht sogar so weit, dass einige Tafeln Mitarbeiter abstellen, die in den Supermärkten die Restware aussortieren. Die Supermärkte sparen auf diese Weise Personalkosten, den Tafeln ist dadurch immer eine Mindestmenge an Lebensmitteln garantiert.
Soziale Gründe spielen für die Spender-Unternehmen nur eine untergeordnete oder eine vorgeschobene Rolle. "Das spielt wohl auch mit rein", formuliert ein Marktleiter den sozialen Aspekt vorsichtig, "sicher bin ich mir aber nicht. Uns wurde damals gesagt, dass wir dadurch eben viel Geld sparen können. Wenn wir die Lebensmittel nicht spenden würden, müssten wir sie ja verschrotten. Und das kostet eben."
Trotz dieser doppelten Nützlichkeit - für Kunden und Spender - haben die meisten Tafeln heute mit wachsenden Problemen zu kämpfen. Sie müssen immer schneller reagieren, der Kundenstamm wächst schneller als die eigenen Strukturen. Mancherorts gibt es einen regelrechten "Krieg" um die Waren zwischen verschiedenen Tafeln. Gerade auch deshalb, weil immer mehr tafelähnliche Einrichtungen oder sogenannte "wilde Tafeln" entstehen, die sich des positiv besetzten Namens "Tafeln" bedienen. Vor allem die Tafelvereine, die ausschließlich ehrenamtlich arbeiten, stehen unter einem erheblichen Organisations- und Professionalisierungsdruck. Einerseits wollen sie sich ihre Freiräume erhalten und einen offenen Umgang mit ihren Kunden pflegen; andererseits müssen sie aber auch immer mehr Vorgaben erfüllen und Leistungen erbringen. In diesem Spannungsfeld wird ein Teil des Drucks unwillkürlich an die Kunden abgegeben. Mit Disziplinierungsmaßnahmen sollen die eigenen Kunden regelrecht "erzogen" werden. Letztlich bedeutet dies, dass diese lernen müssen, sich an die örtlich vorhandene Tafelstruktur anzupassen.
Aber das Wesen des wirklichen Elends ist immer, dass es weder zum richtigen Zeitpunkt kommt, noch eine ansehnliche Form annimmt. Es wirkt immer derangiert, es ist immer deplatziert. Die Tafeln sind, aus dieser Perspektive betrachtet, nichts anderes als der paradoxe Versuch, dem Elend einen konkreten Ort und eine akzeptable Form zu geben. Die Tafeln sind ein gesellschaftlicher Mechanismus zur Disziplinierung des Elends.
Und dennoch: Die Erfindung der Tafeln war und ist eine herrliche Idee. Ich habe eigentlich nur Menschen getroffen, die von der Grundidee ("Jeder gibt, was er kann") überzeugt, wenn nicht sogar begeistert waren.
Der Erfolg der Tafeln erklärt sich erstens und primär aus der relativen Nähe zwischen Helfern und Kunden. Dadurch sinkt die Hemmschwelle, sich bei einer Tafel zu engagieren. Der zweite Grund für den Erfolg der Tafeln ergibt sich aus dem Stellenwert von Nahrungsmitteln in unserer Gesellschaft. Lebensmittel sind ambivalente Produkte. Einerseits von existenzieller Bedeutung (Nahrung), andererseits wie kaum etwas anderes Ausdruck sozialer Differenzierung und von Lebensstil (um dies zu erfahren, gehe man nur einmal in eines der vielen Feinkostgeschäfte). Bei der Tafel werden beide Seiten zusammengeführt, weil die Reste der Lebensmittelproduktion aus der Sphäre des (oft ästhetisch überhöhten) Konsums in die Sphäre der Überlebensnotwendigkeiten überführt werden.
Den dritten Grund für den Erfolg der Tafeln sehe ich darin, dass sich in der Tafelarbeit eine konkret-individuelle Begegnungsebene mit einer abstrakt-kollektiven Planungsebene ideal kombinieren lässt. Die zentrale menschliche Geste der Gabe hat sich im Rahmen der Lebensmitteltafeln zwar entindividualisiert, ohne dabei jedoch ihren persönlichen Charakter vollständig zu verlieren. In der Tafellandschaft ist somit beides möglich: Massen von Lebensmitteln werden unter hohem organisatorischen, kommunikativen und logistischen Aufwand akquiriert, gesammelt, zwischengelagert, verteilt und schließlich an die "Endkunden" ausgegeben. Dies ist die neue Dimension des Umverteilens. Eine fast technokratisch anmutende, dafür aber umso zeitgemäßere Interpretation des Topos "Nächstenliebe".
Der vierte Grund für den Erfolg der Tafeln ist die Möglichkeit situativer, sichtbarer Einflussnahme. Das Engagement ist für die Helferinnen mit einem positiven Imagefaktor verbunden, der sich auch außerhalb der Tafelwelt einsetzen lässt.
Auf der praktischen Ebene leistet jede einzelne Tafel fantastische Arbeit. Aber man vergisst dabei allzu leicht, dass Tafeln in einer nach wie vor reichen Gesellschaft wie der Bundesrepublik eigentlich überflüssig sein sollten. Die Tafeln, die sich mittlerweile eine komplexe interne Struktur aufgebaut und an die sich immer wieder ändernden Bedürfnisse und Voraussetzungen angepasst haben, befinden sich jedoch in einer Situation, in der es relativ rational ist, sich mit dem sozialen Abstieg ganzer Bevölkerungsschichten abzufinden - gerade weil dieser Prozess ihre eigene Existenz ja überhaupt erst legitimiert und sichert. Diese strukturelle Paradoxie, gleichzeitig gegen ein Elend anzukämpfen, dieses aber auch zu benötigen, um erfolgreich dagegen ankämpfen zu können, ist die grundsätzliche Ungereimtheit, die mit der Welt der Tafeln verbunden ist.
Das eigentliche Ziel der Tafelbewegung müsste deshalb die Selbstabschaffung der Tafeln sein. Dann wären die Tafeln wirklich erfolgreich. Wenn die Tafeln verschwinden können, bedeutet das, dass der Grund für ihre Existenz verschwunden wäre. Neben der konkreten Hilfstätigkeit wird es deshalb in Zukunft darauf ankommen, die politische Dimension der Tafelarbeit stärker in den Blick zu nehmen."
Einen guten Morgen wünscht
Thomas Beßen
Quelle:
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/dokumentation/1657079_Die-neue-Armenspeisung.htmlDer Autor Stefan Selke ist Professor für Soziologie Digitaler Medien an der Hochschule Furtwangen University. Neben seiner Forschung über virtuelle Realitäten im Cyberspace beschäftigt er sich aus soziologischer Perspektive auch mit der realen Welt der Tafeln und den konkreten Formen sozialer Ungleichheit in Deutschland. In beiden Welten verfolgt er immer wieder die Leitfrage: "In welcher Wirklichkeit leben wir eigentlich?"