Autor Thema: Niederländisches Demenzdorf Hogewey - Alles für den Augenblick  (Gelesen 4919 mal)

Offline Thomas Beßen

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"Jo Verhoeff ist 85 und dement. In den Niederlanden hat man ihr und anderen Erkrankten ein eigenes Dorf gebaut. Es ist eine Welt ohne Gestern und Morgen - mit größtmöglicher Freiheit. Und zugleich eine Antwort auf die Frage, wie die Gesellschaft mit Alten umgehen soll, die sich verhalten wie Kinder.

Der Moment, in dem sich die Welt als Scheinwelt entpuppt, kommt unverhofft. Jo Verhoeff geht voran mit forschem Schritt, "wenn Sie mir bitte folgen würden". Sie ist eine stolze Frau, und das Wohnzimmer, das sie durchquert, ist ihr Reich. "Es ist schön, dass Sie gekommen sind". Höflichkeit ist ihr wichtig. Der Weg führt durch den Flur, an den Wänden hängen Bilder von der letzten Silvesterparty, vorbei an der Haustür, die nie verschlossen ist, vor der noch immer der lachende Schneemann steht, einen halben Meter hoch, die Sonne scheint ihm auf den dicken Plastikbauch, es ist Frühling.

Jahreszeiten, Gepflogenheiten, Tagesabläufe, Geschichten, alles verschwimmt. Hogewey ist eine Welt zum Zusammenbasteln. Ein Dorf für Menschen, die sich ihrer Erfahrungen nicht mehr bedienen können, die sich nach Freiheit sehnen, aber kein Gefühl mehr haben für Sicherheit.

Wenn es etwas gibt, das diesen Ort besonders auszeichnet, dann ist es Gelassenheit. Bewohner gehen im Winter ohne Mantel vor die Tür und im Sommer dafür mit zweien, sie spüren den Regen auf der Haut und lassen den Schirm zu Hause, sie trinken Kaffee zum Einschlafen und essen Schokolade zum Frühstück, gehen schimpfend über die Straße und singend durch den Flur.

"Es ist schön, mal wieder Deutsch sprechen zu können", sagt Jo Verhoeff nach einer langen Begrüßung.

"Es ist schön, dass Sie zu Besuch sind", sagt sie. "Ich zeige Ihnen gerne die Einrichtung."

"Wer sind Sie?", fragt sie. "Sprechen Sie Deutsch?"

Jo Verhoeff ist eine fröhliche Frau, sie lächelt viel, sie bewegt sich gerne. Sie ist eine eitle Frau, die gewellten Haare, der Strickpullover, die Kette mit den Plastikperlen, sie werden zurechtgezuppelt bis sie sitzen. Die Hände haben immer Haltung, meist berühren sich nur die Spitzen der feingliedrigen Finger. Jo Verhoeff ist eine gebildete Frau, sie besuchte die höhere Schule, lernte Englisch, Französisch, Deutsch, Rechnungswesen. Sie ist eine ehrgeizige Frau, sie arbeitete in einer Bank, Geld, Ordnung, Übersicht, das alles bestimmte ihren Alltag.

Und sie ist eine vergessliche Frau.

Seit die Demenz Teile ihres Gehirns lahmlegt, herrscht in ihrem Kopf Chaos. Die Vergangenheit ist zu einem dicken Klumpen verwachsen, manchmal spuckt die Erinnerung Momente aus, die etwas mit der Gegenwart zu tun haben, aber nicht unbedingt mit der Realität. Geblieben ist der Rhythmus eines Lebens, das mit Anstand gelebt wurde, mit einem durchgedrückten Rücken am Esstisch und guten Manieren gegenüber Fremden.

Hogewey knüpft an das an, was bleibt, trotz der Demenz. Vorlieben und Gefühle, die wichtiger werden, weil der Kopf nicht mehr funktioniert. Die Einrichtung im Speckgürtel von Amsterdam bietet eine Antwort darauf, wie die Gesellschaft mit den rund 1,3 Millionen Demenzkranken allein in Deutschland umgehen sollte. Indem sie sich auf deren Bedürfnisse einstellt, statt sie in Heimen isoliert zu verwahren, sie trocken, satt und sauber zu halten und ihnen den eigenen Willen abzusprechen.

Die Bewohner leben zusammen in Häusern

Jo Verhoeff hat 85 Jahre Leben in ihrem Kopf, geblieben ist ihr der Augenblick. Sie lebt für den Moment, seit es kein Gestern mehr gibt und erst recht kein Morgen. Das Jetzt ist schon gleich wieder vergessen. Es ist, als drücke jemand kontinuierlich die Reset-Taste. "Ich bin Brenda", sagt ihre Pflegerin, jeden Tag, Dutzende Male. Jo Verhoeff ist umgeben von Fremden, mit manchen von ihnen lebt sie seit vielen Jahren zusammen. Sie teilen Küche, Couch, Fernseher, Tisch, aber es verbindet sie nichts. Alles ist immer neu. Alles ist immer gleich wieder weg. Der Weg zur Toilette ist ein Rätsel, das Bedürfnis dorthin zu gehen auch, nach ihr zu fragen unmöglich. Wen auch? Wer nichts mehr weiß, für den ist alles bedrohlich.

Hogewey hat es sich zum Ziel gesetzt, die Angst zu nehmen, indem sie ernst genommen wird. Die insgesamt 152 Bewohner leben jeweils zu sechst in Häusern, die eine nach außen abgeschlossene Siedlung bilden. Sieben verschiedene Einrichtungsstile gibt es, sie entsprechen den Lebenswelten der Menschen in den Niederlanden, ermittelt hat sie ein Meinungsforschungsinstitut: rustikal, urban, christlich, wohlhabend, indonesisch, kulturell-versiert, häuslich. Hogewey ist eine geschrumpfte holländische Stadt. ..."


Aus Amsterdam berichtet unter http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,823426,00.html Barbara Hans.

Frühe Grüße nach A'dam en tot siens!
Thomas Beßen
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Offline Savannah

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Re: Niederländisches Demenzdorf Hogewey - Alles für den Augenblick
« Antwort #1 am: 29. März 2012, 05:52:23 »
Guten Morgen Allerseits!

Ja, das ist ein sehr schöner Bericht, der mich mit seiner Wärme berührt und mir das Gefühl vermittelt, dass es Menschen gibt, die in der Lage sind, unausgesprochene Probleme in die Tat um zu setzen und eine Lebensweise vor zu geben, die menschlich wirkt.
Schade nur, dass ich kein niederländisch spreche und mein zentraler Punkt hier in Deutschland liegt, denn sonst würde ich vermutlich dort morgen, besser schon heute, arbeiten wollen!
Gibt es so etwas auch in Deutschland?

LG, Savannah
"Es ist kein Zeichen von Gesundheit, an eine von Grund auf kranke Gesellschaft gut angepasst zu sein."

Offline Thomas Beßen

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