Autor Thema: Virtuelle Lernwelten...  (Gelesen 9070 mal)

Offline Thomas Beßen

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Virtuelle Lernwelten...
« am: 30. Januar 2008, 10:12:09 »
Folgendes steht heute in der Frankfuter Rundschau*:

Wie Computer die Schulen verändern
Virtuelle Lernwelten
VON SEBASTIAN GEHRMANN
 
Ulrich Engelen besitzt eine gute Antenne für schlechte Presse. Immer dann, wenn die kritischen Töne mal wieder lauter werden, fühlt sich der Rektor eines Gütersloher Gymnasiums dazu berufen, ein leidenschaftliches Plädoyer für den technischen Fortschritt in deutschen Klassenzimmern zu halten. Als aber die Zeitungen vor einem halben Jahr vom "Laptop-Flop" schrieben, war das Maß voll.

An der amerikanischen Ostküste hatten Lehrer die teuren Geräte medienwirksam abgeschafft, weil Schüler zu viel Zeit im Internet verschwendeten und ständig die Elektronik streikte. Doch das, was die Geschichte hier auslöste, sagt Engelen, "war eine Kampagne".
Das Echo endete in einem vernichtenden Urteil. Der Traum von der digitalen Unterrichtswelt sei geplatzt, Initiativen wie "Schule ans Netz" gescheitert. Das Trara um neue Medien entpuppe sich im Schulalltag als wirkungsloser Hokuspokus. Elektronisch unterstütztes Lernen, dieses ominöse E-Learning, brauche kein Kind. Solche Berichte, sagt Engelen, "waren politisch wenig dienlich". Sie waren Wasser auf die Mühlen "der Ewiggestrigen", für die "ein Computer im Unterricht nichts zu suchen hat".

Im Evangelisch Stiftischen Gymnasium, dem der Verlagsriese Bertelsmann - und das wohl nicht ohne Eigennutz - vor Jahrzehnten den Eintritt in das Medienzeitalter finanzierte, gibt es viele Computer. Sie sind in futuristischen Räumen samt Bildschirm in die Schultische eingelassen und für spezielle Unterrichtseinheiten unersetzbar geworden. Seit Unterricht hier stattfinden kann, gilt die Schule als vielbeachteter Vorreiter für innovative Unterrichtselektronik.

In Gütersloh wird ein Schlagwort wie Medienkompetenz als "kritisch kreativer Umgang mit Computern verstanden" (Engelen). Schüler recherchieren und präsentieren Unterrichtsinhalte am Computer. Sie erstellen Datenbanken bis hin zur eigenen Website und sie nutzen dafür Videogeräte, Kameras und Schnittplätze.

Es gibt auch Laptop-Klassen, in denen Computer als ständige und mobile Begleiter auf dem Weg zum Abitur die derzeit konsequenteste Umsetzung von E-Learning sind. Kommunikation über Drahtlosnetzwerke ist kein Problem. Externe Gutachter kamen sogar zu dem Ergebnis, dass diese Schüler besser abschneiden als der Rest. Nur haben die Gütersloher das ziemlich exklusiv.

Niedersachsen präsentierte jüngst die Ergebnisse seiner Langzeitstudie "1000mal1000: Notebooks im Schulranzen". Einen eindeutigen Beleg dafür, dass sich Notebookarbeit "in verbesserten Leistungen und Kompetenzen sowie förderlichem Lernverhalten" niederschlägt, fanden die Forscher nicht. Klassen würden zwar in Teilbereichen höhere Werte erreichen, doch seien die Unterschiede allenfalls minimal.

Engelen wundert das nicht. An den 13 für die Studie ausgewählten Schulen mangelte es mitunter sogar an notwendiger Infrastruktur und Kompetenz. Lehrer attestierten nur sechs Schulen eine gute Ausstattung. Vier Schulen verfügten über kein detailliertes Medienkonzept. So bleibt es am Ende bei einem generellen Fazit, das mehr ein Appell ist: "Innovative Wege im Bildungsbereich brauchen Zeit und entsprechende Rahmenbedingungen."

Tatsächlich klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit "eine ziemliche Kluft und die Frage lautet, ob sich Deutschland diesen Status dauerhaft leisten kann". Angesichts der desaströsen Pisa-Ergebnisse würde sie Renate Schulz-Zander, Leiterin des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung, "klar mit Nein beantworten". Dabei würden andere Länder vormachen, wie E-Learning funktioniert, "wenn es in sinnvollen didaktischen Konzepten entwickelt wird". Das heißt? Der Einsatz neuer Medien und die Internetnutzung ist keine Alternative, sondern eine Ergänzung zu traditionellem Unterricht.

Längst wird deshalb von Blended Learning, integriertem Lernen gesprochen. Allerdings wird sich das kaum entfalten können, wenn noch 2006 nur 31 Prozent der Schüler im Unterricht regelmäßig einen Computer nutzten. Im OECD-Durchschnitt sind es 56 Prozent. Noch eine Zahl. Internationaler Standard bedeutet derzeit fünf Schüler auf einen Computer. In Deutschland sind es zwölf. Zum Vergleich: In 98 Prozent der deutschen Haushalte, in denen Zwölf- bis 19-Jährige leben, stand 2007 ein Computer, 95 Prozent hatten einen Anschluss an das Internet.

Die privaten Voraussetzungen für den Trendwechsel an den Schulen also stimmen. 83 Prozent der jungen Internet-Nutzer sind mehrmals pro Woche und häufiger online, im Schnitt 114 Minuten täglich. 42 Prozent gaben nach einer Umfrage des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest jüngst an: "Es macht Spaß, mit dem Computer zu lernen." Immerhin 68 Prozent fanden: "Computer sind nützlich für die Schule." Dass die Zahlen im Vergleich zu 1998 leicht rückläufig sind, sagt viel über die Praxis an Schulen aus.

"In Deutschland muss intensiv und rasch über veränderte, zeitgemäße Formen des Lehrens und Lernens nachgedacht werden", sagt Bernd Frommelt, Präsident der Gesellschaft zur Förderung Pädagogischer Forschung. Ein Blick hinter die Kulissen eines Gymnasiums im Frankfurter Norden genügt, und man weiß, was Frommelt meint. So lange dort Lehrer private CD-Player in den Unterricht mitbringen müssen, braucht man über Multimedia-Tafeln oder Podcasts nicht reden (siehe untenstehenden Bericht).

Man braucht es auch nicht über ein virtuelles Klassenzimmer wie Moodle, in denen Lehrer und Schüler interaktiv agieren, so lange uralte Computer unter einem Berg von Schülerjacken verstauben. So lange Lehrer von Schülern derart ernüchternde Zeugnisse wie in der IT-Fitness-Studie von Microsoft ausgestellt bekommen, braucht man überhaupt nicht von E-Learning reden.

Befragt nach den IT-Kenntnissen erhielten Pädagogen gerade mal die Note "befriedigend". Und Untersuchungen der Dortmunder Wissenschaftler zeigen, dass Lehrer in der Unterrichtsvorbereitung und im Austausch von Lehrmaterialien zwar verstärkt auf digitale Medien und Internetplattformen zurückgreifen, aber, so Schulz-Zander, "ihre Kenntnisse im Unterricht kaum einsetzen".

Zuletzt verhindere die derzeitige Bildungspolitik bessere Ergebnisse. Die mache "das Thema zu einem Thema x-ter Ordnung", so Schulz-Zander. In der Theorie müssten angehende Lehrer bereits in Studium und Referendariat die Möglichkeiten der digitalen Welt verstehen. In der Praxis hingegen zwingen die modularisierten Studiengänge Universitäten dazu, ihre Studienangebote zu straffen und E-Learning-Seminare in den Wahlbereich zu verlagern. Ob eine freiwillige Basis die richtige Reaktion ist? Noch sind Schulen, wie in Gütersloh, jedenfalls die rühmliche Ausnahme.


Zum weiteren Nachdenken durchaus geeignet...
Morgendliche Grüße!
Thomas Beßen

* und unter http://www.fr-online.de/in_und_ausland/wissen_und_bildung/aktuell/?em_cnt=1279796&





Wer heute krank ist, muss kerngesund sein.