Autor Thema: "Die Tricks der Pillendreher - Profit und Patente"  (Gelesen 4095 mal)

Offline Thomas Beßen

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"Die Tricks der Pillendreher - Profit und Patente"
« am: 08. Januar 2009, 09:23:07 »
Birgitta vom Lehn schreibt in der heutigen Frankfurter Rundschau:

""Heute bin ich 64 Jahre alt und lebe in Deutschland, in Schwaben. Ich bin verheiratet und habe einen kleinen Sohn, der mir das Teuerste auf der Welt ist." Der Mann, der dies schreibt, besitzt einen Namen, der wie ein Medikament klingt: Virapen. John Virapen.

Seine Biographie ist rasch erzählt: Geboren in British-Guyana als Kind indischer Einwanderer, nach dem Medizinstudium in England und der Promotion in den USA als Außendienstmitarbeiter für verschiedene Pharmafirmen, von 1979 bis 1989 aber für Eli Lilly in Schweden tätig. Zehn Jahre lang arbeitete er dort als Geschäftsführer, offenbar mit beachtlichem Erfolg.

Bereits im ersten Jahr puschte Virapen nach eigenen Worten den Umsatz von 700 000 auf 15 Millionen US-Dollar. Ein intelligenter Macher-Typ, so scheint es, einer, der die Ärmel hochkrempelte und den Markt auf Zack brachte - der aber auch zu Methoden griff, die ihn inzwischen selbst anekeln. Dabei seien sie keineswegs singuläre Delikte gewesen, sondern in der Branche üblich, betont er.

In seinem selbst verlegten und leider etwas schlampig redigierten Buch plaudert der Aussteiger daher mehr aus, als der Branche lieb sein dürfte (John Virapen: Nebenwirkung Tod. Mazaruni Publishing, 16,90 Euro). Auch wenn solche Berichte natürlich mit Vorsicht zu genießen sind, weil eine gewisse Rache am Ex-Brötchengeber unvermeidbar scheint, so wirkt das Bild doch zutiefst authentisch, das Virapen hier von einer Welt zeichnet, die mit Heilen und Helfen nur noch wenig zu tun hat. Im Vordergrund stehen Profit und Patente, neue Konsumentengruppen werden erfunden, um mit Blockbustern Geschäfte an eigentlich Gesunden zu machen. Virapen stellt keine bloßen Behauptungen in den Raum, er liefert auch detaillierte Nachweise.

Dass Depression zur Volkskrankheit mutiert ist, liege zum Beispiel daran, beschreibt Virapen, dass man das vor 50 Jahren von Psychiatern definierte Profil für Depression laufend "unschärfer" mache und "die Grenzen zwischen dem, was noch als gesund, und dem, was schon als krank gilt", aufweiche. "Man macht den Katalog einfach dicker - und erhält dadurch eine immer weiter steigende Anzahl von Menschen, die in diese Kategorie passen."

In dieser schönen neuen Pillenwelt besitzt das Marketing natürlich einen zentralen Stellenwert. "Marketing beinhaltete die ganze Spanne; angefangen mit teurem Nippes für Ärzte, Reisen für Meinungsführer, über Geld für gekaufte Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, die Vorbereitung und Durchführung von wissenschaftlichen Kongressen bis hin zu Bordellbesuchen für besonders pflegebedürftige Manager. Und schließlich gehörte auch Bestechung von Behörden zu meinem traurigen Repertoire", beschreibt Virapen sein ehemaliges Tätigkeitsfeld. In den USA ist es inzwischen Pharmafirmen verboten, Werbe-Kugelschreiber an Arztpraxen zu liefern. Ein magerer Anfang, immerhin.

In einem der interessantesten Kapitel des Buches erklärt Virapen, wie sogenannte "Meinungsführer" gekauft werden. Konkret geht es darum, renommierte Ärzte zu finden, die in medizinischen Fachzeitschriften positiv über die Produkte schreiben. So habe es in Schweden einen Spezialisten für Schmerztherapie gegeben, der zwar offiziell für die Gesundheitsbehörde arbeitete, aber von Eli Lilly ein festes Gehalt dafür bezog, dass er die Firma beriet, firmeneigene Broschüren durchsah und Vertreter schulte. Der Mann besaß aber kein Büro, sein Name tauchte in keinem Sitzungsprotokoll auf. "Er wurde nur dann aktiviert, wenn es schlechte Presse über uns und unsere Produkte gab.

Virapen versichert, diese Praxis gehöre "in der Pharmaindustrie zum Alltag", sie sei kein Einzelfall, solange es Meinungsführer gebe, echte Autoritäten. Deutschland sei da keine rühmliche Ausnahme, denn "der Medizinbetrieb in Deutschland ist ein Paradebeispiel für Autoritätshörigkeit".

Heute peinigen den Ex-Manager massive Schuldgefühle, an all dem beteiligt gewesen zu sein: "Mein Job war es, die Obergockel bei Laune zu halten." Schließlich ging es um gezielte Desinformation: "Das Fälschen von Informationen - hier die Fehlinformation in Fachblättern - was wird da wirklich geglättet? Todesfälle werden kaschiert", Vertuschungen seien "gängige Praxis" in der Branche, so Virapen.

Auch den Mythos von der aufwendig forschenden Arzneimittelindustrie bringt Virapen zum Kippen. "Um Patente geht es. Denn Patente bringen Geld. Forschung dient der Pharmaindustrie, neue Patente für bereits Vorhandenes zu bekommen. Wie weit wäre die Medizin, würde dieses Geld in die wirkliche Forschung investiert?", fragt der Autor. Stattdessen würden oft nur einzelne Moleküle eines Wirkstoffs verändert, was ohne nennenswerten Fortschritt für die Patienten bleibt, dafür die Kassen der Firmen aber umso lauter und länger klingeln lasse.

Schließlich wäre eine Firma ja auch dumm, wenn sie ein Mittel erfände, das tatsächlich heilen könnte statt nur die Symptome zu bekämpfen: "Chronisch Kranke garantieren lebenslange Umsätze - einen solchen Markt würde ein Medikament, das heilt, zerstören."

Ein Kapitel für sich ist der sogenannte "Blockbuster". Virapen definiert ihn so: "Ein Blockbuster ist eine Pille, bei der die Krankheit, die geheilt oder gelindert werden soll, völlig zweitrangig ist." Ein Charakteristikum des Blockbusters sei zum einen das Marketing: "Es wird beworben, obwohl noch gar nicht klar ist, dass er es überhaupt je auf den Markt schafft." Ist das Produkt nämlich schon in aller Munde, dann wird es schwieriger für die Behörden, Nein zu sagen. Warum ein Medikament verbieten, das alle Patienten für dringend notwendig halten? Ein weiteres Charakteristikum des Blockbusters ist, "dass er die Grenzen zwischen krank und gesund verwischt, dass er zunehmend unterschiedslos angewendet wird, denn nur so erzielt er seinen außergewöhnlichen Absatz". Deshalb gehe man inzwischen auch in der Werbung andere Wege: Statt den Arzt als Mittelsmann zu überzeugen, wendet man sich direkt ans große Publikum. Zwar darf für verschreibungspflichtige Medikamente in vielen Ländern nicht geworben werden. Der Trick ist aber: Man bewirbt einfach die "Krankheit" statt des Medikaments - Depression, Impotenz, Hyperaktivität und so fort.

Solange der Medikamentenname nicht auftaucht, ist rechtlich alles in Butter. Trotzdem ist der passende Name natürlich sehr wichtig. Für das Antidepressivum Fluoxetin, dessen "Erfolgsgeschichte" Virapen hier schildert, habe Eli Lilly "hunderttausende Dollar" an eine auf Branding spezialisierte Firma gezahlt, die den knackigen Namen "Prozac" erfand. Dabei wäre das viele Geld besser in weiteren Sicherheitsstudien des neuen Wirkstoffs angelegt gewesen, meint der Autor.

Schweden spielte bei der Markteinführung der Glückspille eine zentrale Rolle, weil die Psychiatrie dort als besonders renommiert gilt. "Mit einem richtigen Erfolg des Wirkstoffs konnten wir nicht glänzen. Das Zeug hatte mehr Nebenwirkungen gezeigt als irgendeinen Nutzen." Virapen entschloss sich daher, einen von der staatlichen Behörde ausgewählten unabhängigen Gutachter zu bestechen. Was ihm auch gelang. Man verabredete sich in einem Hotelzimmer. "Der riesige Aktenberg wurde geschüttelt, neu geschichtet, neu gemischt wie die Karten eines Pokerspiels. Statistiken - das Spiel mit Zahlen. Todesopfer verschwanden in Fußnoten.

Trotz des geschönten Gutachtens wurde Prozac in Schweden nicht zugelassen und ist es bis heute nicht - eine renommierte Expertin der staatlichen Prüfungskommission hatte eigene Tests durchgeführt und festgestellt, Patienten hätten nach der Einnahme versucht sich umzubringen. Doch Prozac kam nun in anderen Ländern auf den Markt und katapultierte die gesamte Familie der Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) nach oben in der Hitliste der bestverkauften Wirkstoffe. Vor allem in den USA und England stieg die Pille zur Lifestyledroge auf.

Besonders gravierend findet der Autor, dass jetzt verstärkt Kinder ins Visier der Pharmagiganten geraten: Analog zur Erwachsenentherapie soll der "unausbalancierte Serotoninspiegel" nun auch bei Kindern mit SSRI harmonisiert werden. Ob man folglich glücklich beziehungsweise nicht hyperaktiv ist, hängt davon ab, ob der Serotoninspiegel balanciert ist oder nicht. Das SSRI-Präparat Strattera ist seit 2005 in Deutschland für Kinder zugelassen. Virapens Horrorprognose für die Eltern der Zukunft: "Sie werden sich verteidigen müssen, wenn Ihr Kind demnächst ,wild' über den Schulhof läuft, eine Fünf mit nach Hause bringt oder in der Öffentlichkeit laut lacht." Man hätte schließlich vorbeugen können.

Wer meint, hier handle es sich um ein fernes Zukunftsszenario, der irrt: Sieben Wissenschaftler haben kürzlich im Fachblatt "Nature" dafür plädiert, Hirndoping mittels Ritalin, Amphetaminen oder Modafinil allen frei zugänglich zu machen. Entsprechend gut gelaunt zeigt sich die Pharmabranche: Sie erwartet auch in diesem Jahr gute Umsätze. "Die Finanzkrise hat die meisten Unternehmen der Pharmabranche nicht getroffen", verkündete jüngst Wolfgang Plischke, Vorsitzender des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller.
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Gute Gesundheit wünscht
Thomas Beßen


Wer heute krank ist, muss kerngesund sein.