Autor Thema: Die Abendrunde - „Behütet in die Nacht“  (Gelesen 9652 mal)

Offline Thomas Beßen

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Die Abendrunde - „Behütet in die Nacht“
« am: 07. Februar 2013, 06:31:42 »
Zusammenfassung

Rituale vereinfachen das Leben. Sie schaffen Vertrauen und strukturieren den Alltag. Die Station A2 der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel im Evangelischen Krankenhaus Bielefeld beschreitet diesen Weg seit zwei Jahren mit ihrer „Abendrunde“, die mittlerweile fester Bestandteil des Wochenprogramms ist.

Einführung

Eine Patientin der Station, eine 70-jährige Dame, die aufgrund ihrer manisch-depressiven Erkrankung den schützenden Rahmen der Klinik benötigt, hat am Nachmittag einen heftigen Streit mit ihrer Tochter. Am Schluss des Besuchs fällt der Satz: „Dann wirst Du enterbt!“ Die Tochter verlässt wütend die Station, die Patientin schimpft über mangelnde Unterstützung seitens ihrer Tochter. Einige Stunden später zieht dieselbe Patientin zum Abschluss der Abendrunde [1] die „Gute Nacht-Karte®“ „Vergebung“. Sie blickt eine Weile auf die von ihr gezogene Karte, plötzlich beginnt sie zu weinen. Mitpatienten der Runde und der die Gruppe moderierende Pflegende sprechen ihr Trost zu.

Ein Patient, der mit der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie auf der Station behandelt wird, übernimmt im Rahmen der Abendrunde das Vorlesen der Geschichte. Die ebenfalls an der Runde teilnehmenden Mitpatienten hören aufmerksam zu. In dem Abschlussgespräch für seine Behandlung gibt er an, dass diese Geschichte ihn sehr nachdenklich gestimmt habe.

Solche und ähnliche Begegnungen mit den Patientinnen und Patienten gibt es immer wieder, seit im Dezember 2009 auf Station A2 der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel im Evangelischen Krankenhaus Bielefeld (EvKB) die Abendrunde - zunächst noch als Projekt und mittlerweile als fester Bestandteil des wöchentlichen Programms - eingeführt wurde. Dabei handelt es sich bei der Abendrunde um eine pflegerische Gruppe, die sich in Anlehnung an Rakel und Lanzenberger [2] mit den Ressourcen des noch kranken Menschen befasst. Zu Beginn war die Abendrunde gedacht als ein freiwilliges Angebot für die Patientinnen und Patienten der Station in der Zeit von Montag bis Freitag. Ziel war und ist es, eine entspannte Begegnung im Krankenhausalltag zu ermöglichen und den Abend zu strukturieren. Mittlerweile ist die Abendrunde zu einem festen, ritualisierten Bestandteil des Wochenangebots geworden.

Rituale vereinfachen das Leben. Sie schaffen Vertrauen, sind verlässlich und strukturieren den Alltag. Jeder Mensch lebt unbewusst mit Ritualen. Ein eigener Rhythmus gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Insbesondere in schwierigen Lebensphasen sind Rituale hilfreich und wirken stabilisierend [3]. ..."


Von André Nienaber und Marie Boden unter https://www.thieme-connect.de/ejournals/html/10.1055/s-0031-1301034 07.02.2013
Siehe auch „Gute Nacht-Karten®“ unter https://www.thieme-connect.de/media/psychpflege/201201/pph-0012-a-01.jpg.

Flüchtige Grüße nach Bielefeld!
Thomas Beßen
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Offline Brady

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Re: Die Abendrunde - „Behütet in die Nacht“
« Antwort #1 am: 10. Februar 2013, 18:35:13 »
Ich finde diese "Abendrunde" eine sehr gute Idee. In diesem Artikel wird beschrieben, wie gut Rituale und Strukturierung dem Menschen in Krisen helfen. Aber nicht nur in Krisen, sie dienen der Orientierung und geben Sicherheit.
Meine Erfahrung sind positiv. Wir haben z.B. Morgenrunden, dort werden organisatorische Dinge besprochen. Wir geben dem Patienten Dinge weiter, wie z. B. wer vom Personal nicht da ist und wie die Vertretung aussieht. Der Patient kann Dinge im Ablauf erfragen, usw..

Dann die Tagesabschlussrunde, diese ist ein kurzes Blitzlicht um den Tag Revue passieren zu lassen. Es wir im Zusammenhang, was war nicht gut? Was war gut? Was habe ich geschafft? Mit welchem Gefühl gehe ich nach Hause? Die Moderation macht die Pflege und oft geht es auch nur um das "Aushalten" von schlechten Gefühlen der Patienten. Ausgesprochen und geteilt  mit uns und den Mitpatienten erleichtert es. Wir leiten die Dinge zu positiver Sichtweise, was wurde geschafft? Nicht was wurde nicht geschafft? Kleinschrittiger und freundlicher mit sich selber umzugehen. Nachhause zu gehen mit einem kleinen guten Gefühl, mit einer kleinen Hoffnung  ist besser als "Nichts" und fördert die Ressourcen des Menschen.

So ungefähr laufen auch die Wochenabschlussrunden und die Wochenanfangsrunden ab. Die Sichtweise auf das anstehende Wochenende. Was kann ich tun damit es mir besser geht? Was habe ich geplant? Wo ist mein Freiraum?

Die Anfangsrunden haben eine Aufgabestellung. Woran möchte ich diese Woche arbeiten? Was ist das Thema welches ich besprechen möchte und immer wieder wird nach dem Gefühl gefragt was zur Zeit da ist.

Jetzt habe ich ein wenig vom Inhalt beschrieben, möchte aber noch klar die Wichtigkeit der Strukturierung darstellen. Diese Vorgaben an Struktur geben Sicherheit. Eine "äussere" Strukturierung fördert "innere" Struktur und Halt.

Damit verbunden sind in diesen Runden immer wieder Informationen enthalten, wer vom Personal  da ist oder nicht da. Informationen über Ausfälle von Therapien sind selbstverständlich.
Betritt jemand "Fremdes" die Tagesklinik z.B. es kommt jemand von der Verwaltung, usw. Alle Informationen, die den Ort betreffen werden dem Patienten mitgeteilt.

Ich hoffe, es ist verständlich. Ansonsten nachfragen. Wer auch gerne mehr wissen möchte? Nur zu.... :-)

Liebe Grüße Brady
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Offline dino

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Re: Die Abendrunde - „Behütet in die Nacht“
« Antwort #2 am: 10. Februar 2013, 18:44:54 »
Hi Brady, wir haben keine eigene Abendrunde, sprechen aber in Einzelgesprächen, . B. in der Pflegevisite, auch Defizite an. Wir verstehen uns als Übungsfeld, wo durchaus mal was Schiefgehen kann. Ansonsten sehen wir die gefahr einer Käseglocke, da ein Patient "draußen" auch auf Defizite hingewiesen wird.
VG    dino

Offline Brady

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Re: Die Abendrunde - „Behütet in die Nacht“
« Antwort #3 am: 10. Februar 2013, 19:10:55 »
Hallo Dino,

das ist der Unterschied wohl zu einer Tagesklinik. Unsere Patienten bringen ihre Probleme direkt von zuhause mit, weil sie täglich kommen und gehen.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Patient eher einen strengen "inneren" Richter hat und wir müssen oft darauf aufmerksam machen, liebevoller und gnädiger mit sich umzugehen.

Durch die Gruppendynamik ist es oft nicht nötig Dinge anzusprechen, die der Patient verändern sollte. Es kristallisiert sich von selber heraus. Das ist auch der wichtige Schritt eigene Entscheidungen zu treffen, was möchte ich verändern? Woran möchte ich arbeiten?

Nicht wir geben dem Patienten den Behandlungsauftrag, sondern er gibt ihn uns.
Es ist viel effektiver an Dingen zu arbeiten, die der Patient selber erfahren und erarbeitet hat.
So sieht der therapeutische Weg aus. Wir sind eher die "Schwimmmeister", stehen am Rande und geben Hilfestellung, der Patient muss selber schwimmen.

LG Brady
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Offline dino

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Re: Die Abendrunde - „Behütet in die Nacht“
« Antwort #4 am: 10. Februar 2013, 20:00:37 »
Jepp, wir sind eher am Anfang der Behandlungskette positioniert und wir sind eine Suchtabteilung. Im Laufe der Behandlung klärt sich wo z. B. lebenspraktische Fähigkeiten erhalten, wiedergefunden oder aufgrund der Krankheit weitgehend verschwunden sind. Ebenso sieht es mit der persönlichen Hygiene aus. Aber auch die so genannten sekundärtugenden werden gepflegt. Nicht jeder Patient geht in eine Anschlussbehandlung, und ein Arbeitgeber achtet auf Pünktlichkeit. Wir versuchen unsere Behandlung weitgehend (natürlich mit Netz) der Realität anzupassen, darauf ist unser Konzept aufgebaut (welches im Vergleich zu anderen Suchtbereichen liberal ist und viel auf Eigenverantwortung des Patienten setzt).
VG    dino

Offline Brady

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Re: Die Abendrunde - „Behütet in die Nacht“
« Antwort #5 am: 10. Februar 2013, 20:24:40 »
Ja, es gibt verschiedene Typen der Milieugestaltung, setzte mal einen Link von Pflegewiki rein. Wir haben ein reflektierendes Milieu und setzen damit ein hohes Mass an Eigenverantwortung bei den Patienten.

http://www.pflegewiki.de/wiki/Milieugestaltung

LG Brady
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